Der weiße Klang der Wellen: Roman (German Edition)
Magdalenen-Gedichten. Eine Reihe von
Gedichten über ein Mädchen, das nicht zur Frau wurde. Eine Elegie über ein
ungelebtes Leben.
Thomas hielt inne und nahm erneut einen tiefen Schluck Wasser. Man
vernahm das Geräusch von mehreren hundert Zuhörern, die die Hand an die Brust
legten und Oh sagten. Der Applaus, der darauf folgte – man konnte es nicht anders sagen –, war tosend. Thomas blickte auf und schien
erstaunt zu sein über den Tumult. Er lächelte nicht, weder in sich hinein noch
in Richtung des Publikums, worüber Linda unglaublich erleichtert war: Thomas
war nicht leicht verführbar.
Die Fragen nach der Lesung waren die üblichen (eine bezog sich auf
seine Schuld, entsetzlich). Er antwortete geduldig; und glücklicherweise hatte
er nichts routiniert Glattes an sich. Linda war sich nicht sicher, ob sie es
ertragen hätte, wenn seine Antworten oberflächlich gewesen wären. Er wirkte
erschöpft, seine Stirn glänzte, fahl inzwischen von echtem Lampenfieber.
Die Fragen hörten auf – es war nicht klar, aufgrund von wessen
geheimem Signal –, und der Applaus, der folgte, ließ die Stuhlreihen erzittern.
Einige Zuhörer standen sogar auf wie im Theater. Ungeschickt und ungeübt in der
Annahme von Lob, verließ Thomas die Bühne.
Sie hätte ihn vielleicht hinter der Bühne treffen und im gemeinsamen
Überschwang umarmen können. Und vielleicht erwartete er sie, wäre enttäuscht
über ihre Abwesenheit. Aber dann sah sie ihn im Foyer, umringt von Bewunderern,
die quälenden Worte in seinem Kopf waren beiseite gedrängt, und sie dachte:
›Ich werde nicht um seine Aufmerksamkeit buhlen.‹
Sie brauchte Luft und ging in die Nacht hinaus. Leute standen in
Gruppen umher, eher angeregt als still. Sie wollte nicht lauschen, konnte aber
nicht umhin, die Worte »erschütternd« und »brillant« aufzuschnappen, obwohl
eine Frau empört darüber zu sein schien, daß ein Dichter aus dem Tod seiner
Tochter Kapital schlug. »Geschmacklos«, hörte Linda, »Ausbeutung des Lebens
anderer Menschen«. Ein Mann antwortete herablassend: »Dana, das nennt man Kunst«,
und Linda wußte sofort, daß die beiden verheiratet waren.
Sie ging um den Block, sie hatte es nötig nach diesem Erlebnis. Das
Nieseln war in heftigen Regen übergegangen, der ihr Haar und ihren Mantel
durchnäßte, bevor sie umkehren konnte. Sie trat in ein kleines Studiotheater
und lauschte einer Frau aus Ruanda, die Greueltaten aufzählte. Benommen saß
Linda da, ohne etwas zu fühlen, bis es Zeit für ihre eigene Lesung war.
Sie wurde hinter die Bühne geführt, wo endlose Schlangen von
Elektrokabeln herumlagen. Daß sie sich nicht schnell genug an die Dunkelheit
gewöhnen konnte, machte sie linkisch und übervorsichtig, und sie wußte, daß der
junge Organisator nichts als eine Frau in vorgerücktem Alter in ihr sah. Seizek
tauchte neben ihr auf, sein Atem kündigte ihn an, bevor sein massiger Leib
erschien. Er legte besitzergreifend die Hand auf ihren Rücken und ließ sie
tiefer gleiten – um das Gleichgewicht zu halten oder männliche Überlegenheit
zur Schau zu stellen, sie war sich nicht sicher. Blinzelnd wurden sie auf die
Bühne geführt, die tatsächlich viel zu grell beleuchtet war. Sie ließen sich zu
beiden Seiten des Podiums nieder. Seizek, der alle Höflichkeitsregeln
mißachtete und nicht einmal seine eigene Vorstellung abwartete, taumelte als
erster aufs Podium. Obwohl er fast zu betrunken war, um zu stehen, lieferte er
eine tadellose Lesung ab, eine Tatsache, die bemerkenswerter war als seine
Prosa, die verwässert klang, als habe der Autor um der Länge willen Absätze
gestreckt, als sei er wegen eines Abgabetermins fahrlässig geworden.
Der Applaus war beachtlich. Einige verließen das Theater, nachdem
Seizek gelesen hatte (gelangweilt von Seizeks Lesung? Keine Liebhaber von
Lyrik? Nicht interessiert an Linda Fallon?), und in den Reihen öffneten sich
noch breitere Lücken. Sie bemühte sich angestrengt, ihre anscheinend fehlende
Popularität (wahrscheinlich war es eher ihr Wunsch nach Anonymität) zu
überspielen, als sie aufs Podium stieg; und nachdem sie das Mikrophon
zurechtgerückt hatte, war es ihr größtenteils gelungen, obwohl sie nicht umhin
konnte, festzustellen, daß Thomas nicht anwesend war. Sie las den Wortlaut
ihrer Verse, Worte, auf die sie durchaus stolz sein konnte, Zeilen, die für sie
zwar nicht mehr neu, aber sorgfältig gearbeitet waren. Doch während sie las, begannen
ihre Gedanken abzuschweifen, und sie
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