Der weiße Klang der Wellen: Roman (German Edition)
in meiner Lesung zu sehen. Es ist immer
schwieriger, wenn jemand im Publikum ist, den man kennt. Ich wollte dir das
ersparen.«
Und damit hatte er natürlich recht.
»Deine Arbeit«, sagte sie auf der Fähre. »Ich weiß nicht, wann ich
je …«
Thomas’ Gesicht zeigte einen Ausdruck, den sie von sich selbst
kannte: Freude, mangelhaft durch Bescheidenheit getarnt.
»In zehn Jahren werden deine Werke Unterrichtsstoff sein«, fügte sie
hinzu. »Vielleicht auch schon eher. Dessen bin ich sicher.«
Sie wandte sich ab und gönnte ihm die Freude ohne ihren
eindringlichen Blick.
»Warum nennst du sie die Magdalenen-Gedichte «,
fragte sie nach einer Weile.
Er zögerte. »Das solltest du wissen.«
Natürlich wußte sie es und wünschte, sie hätte nicht gefragt. Denn
die Frage ermutigte zu Geständnissen und rief Erinnerungen wach, die sie nicht
wollte. »Du schreibst es Magdalene«, sagte sie, »mit ›e‹«.
»So wird es in der Bibel geschrieben. Aber oft wird es Magdalen
geschrieben, ohne ›e‹. Es gibt viele Versionen des Namens: Maria aus Magdala,
Madeleine, Mary Magdalena. Wußtest du, daß Prousts Madeleines nach ihr benannt
sind?«
»Du hast lange an den Gedichten gearbeitet.«
»Ich konnte damit nicht weitermachen. Nach Afrika.«
Es entstand eine peinliche Stille zwischen ihnen.
»Sie gehen über jedes Thema hinaus«, sagte sie schnell. »Gute
Dichtung tut das immer.«
»Es ist ein Mythos, daß sie eine gefallene Frau war. Das nahm man
bloß deswegen an, weil sie zum ersten Mal gleich nach einer gefallenen Frau
erwähnt wird, einer Sünderin.«
»In der Bibel, meinst du.«
»Ja. Es spielt aber eigentlich keine Rolle. Wir interessieren uns
nur für den Mythos.«
»Und sie waren Liebende?«
»Jesus und Maria Magdalena? ›Maria salbte die Füße Jesu‹, heißt es
bei Johannes. Mir gefällt der Gedanke, daß sie Liebende waren. Aber die meisten
Gelehrten wollen allenfalls so weit gehen, zuzugestehen, daß sie Ihn sein ließ,
was Er als Mann war. Ich verstehe das als einen Code für Sex.«
»Warum auch nicht«, fragte sie.
»Alles, was wir über sie wissen, ist, daß sie einfach eine Frau war,
die weder als Ehefrau noch als Mutter ausgewiesen ist – schon an sich
interessant. Und tatsächlich wird sie jetzt als eigenständige Person verkauft.
Als eine Frau, die für Jesus wichtig genug war, sie als eine Art Jüngerin
anzusehen. Wichtig genug, um als erste die Botschaft von der Auferstehung zu
überbringen. Das ist ohnehin die feministische Interpretation.«
»Was war mit dem Hinweis auf die sieben Teufel?«
»Einladung zur Spekulation. Lukas sagt: ›Maria, genannt Magdalena,
von welcher waren sieben Teufel ausgefahren.‹ Wir wissen es nicht. Litt sie an
einer Krankheit wie Epilepsie? War es eine emotionale, eine spirituelle oder
eine psychische Krankheit, von der sie geheilt werden mußte? War sie einfach
verrückt?«
»Deine Gedichte jedenfalls sind hervorragend.«
Auf der Hafenseite sah Linda, wie Robert Seizek die Reling
umklammerte, als wäre er der Kapitän des Schiffs. Vielleicht behielt er den
Horizont im Auge, wie Leute es tun, die im Begriff sind, seekrank zu werden.
Sie bezweifelte, daß er sich an seine Lesung am Abend zuvor erinnerte, oder
daran, daß sie ebenfalls anwesend war. Auf den Bänken der Fähre saßen Teenager,
zu leicht bekleidet für den Ausflug in dieser Kälte; kleine Silberringe ließen
Sonnenlicht an ihrem Nabel aufblitzen. Ihre Gegenwart erinnerte sie daran, daß
Samstag war. Alle Mädchen trugen das Haar in der Mitte gescheitelt und straff
zu einem Pferdeschwanz gebunden. Entsprechend ihrem Namen, wippten die
Pferdeschwänze im Wind. Ihre eigene Frisur war zeitlos, weil sie mit dem Föhnen
nicht zurechtkam.
»Was ist mit Peter geschehen?« fragte Thomas und zündete eine
Zigarette an. Die Frage überraschte sie.
»Ich weiß nicht genau. Er ist nach London zurückgegangen. Als ich
einmal dort war, habe ich im Telefonbuch nachgesehen, aber es gab niemanden
unter diesem Namen in der Stadt.«
Thomas nickte, als wäre es ganz alltäglich, daß jemand, mit dem man
einst verheiratet war, aus dem Leben des ehemaligen Partners verschwand. Das
vom Wasser reflektierte Sonnenlicht war unbarmherzig und entblößte jeden Makel
in seinem Gesicht, das selbst in der Jugend nicht makellos war. Über ihr
eigenes Gesicht wollte sie nicht nachdenken und bekämpfte den Drang, sich in
den Schatten zurückzuziehen.
»Bist du je wieder dort gewesen?« Er meinte
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