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Der weiße Klang der Wellen: Roman (German Edition)

Der weiße Klang der Wellen: Roman (German Edition)

Titel: Der weiße Klang der Wellen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anita Shreve
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Afrika.
    »Nein. Ich wäre gern mit meinen Kindern hingefahren. Aber es war
immer zu teuer, und irgendwie kam es nie dazu.«
    »Es ist jetzt ein gefährliches Land.«
    »Uns kam es damals schon gefährlich vor.«
    »Es war damals gefährlich. Aber jetzt ist es noch schlimmer. Mir
wurde gesagt, Touristen müßten bewaffnete Begleiter haben.«
    Unerwarteterweise war es wärmer auf der Insel, und sie mußten die
Mäntel ausziehen, als sie an Land waren. Thomas zog seinen Blazer aus, und sie
ertappte sich dabei, daß sie seine eckigen Schultern in dem weißen Hemd
betrachtete. Sie war sich ihrer Bluse bewußt, des Gewichts ihrer Brüste, der
vertrauten Schwere. In letzter Zeit hatte sie gelegentlich das Gefühl, es trete
Milch aus. Wahrscheinlich spielten irgendwelche Hormone verrückt.
    Zwischen Holzkaten gingen sie eine Straße hinauf, Thomas mit seinem
zusammengelegten Blazer über dem Arm wie ein in der Hitze unpassend gekleideter
Kolonialherr. Sie hätten auch in Nairobi oder auf Lamu sein können. Sie hatte
den Mantel über die Schultern gehängt, weil sie diese maskuline Geste nicht
nachahmen wollte.
    »Gab es ein Kind?« fragte sie.
    »Falscher Alarm.«
    Einen Moment lang geriet die Straße vor ihr ins Wanken, und sie
bemühte sich, ihr Gleichgewicht wiederzufinden.
    »Was für eine Ironie«, flüsterte sie.
    »Was?«
    »Oh, nichts«, sagte sie ausweichend. Sie wollte ihm keinesfalls von
dem Martyrium in dem katholischen Krankenhaus erzählen. Von der Feindseligkeit
der Nonnen. Von der Freundlichkeit des belgischen Arztes, der die Abtreibung
für notwendig erklärt hatte. Auch nicht von der unverstellten Boshaftigkeit von
Schwester Mary Patrick, die Linda den Fötus in einem Glas gebracht hatte, damit
sie ihn ansähe. Sie würde Thomas keinen weiteren Schmerz zufügen.
    »Du mußt weiterschreiben«, sagte sie nach einer Weile atemlos. »Wie
schwierig es auch sein mag.«
    Thomas schwieg eine Zeitlang. »Es ist ein Kampf, den ich öfter
verliere als gewinne.«
    »Hilft die Zeit?«
    »Nein.« Die Überzeugung schien sich langer Erfahrung zu verdanken.
    Sie gingen einen Hügel hinauf und verließen die Straße, um sich auf
einen Fels zu setzen. Sie war für den Anlaß passender gekleidet als Thomas, und
sie dachte, daß sie beide den großen amerikanischen Trend zur Freizeitmode
hatten verstreichen lassen. Sie hatte ihn nie in einem T-Shirt gesehen, und da
sie ihn nie darin gesehen hatte, konnte sie es sich auch nicht vorstellen. Sein
Hemd war steif, wie sie sah, und von hervorragender Qualität. Plötzlich überkam
sie das Verlangen, das allerdings sofort unterdrückt wurde, ihre Hand auf
seinen Rücken zu legen. Manchmal überkam sie Begierde in der Nacht,
unvermittelt und ungewollt – aufdringlich präsent in ihrem Bett. Es machte sie
unruhig und gereizt und zwang sie, mit neuerlicher Endgültigkeit festzustellen,
was sie verloren hatte.
    (Vincent und sie, im Liegen das Gesicht einander zugekehrt, während
sich ihre Körper an mindestens einem Dutzend Stellen berührten wie Elektroden.
Maria und Marcus verbrachten den Samstagnachmittag mit Freunden; der Luxus von
Zeit und Sonnenlicht auf dem Bett. Vincent, dessen Augen dunkel und ernst sind,
sagt, als sei ihm gerade der Gedanke an die Sterblichkeit gekommen: »Ich hoffe,
ich sterbe vor dir.« Sie sieht ihn mit großen Augen an. Das sagte Vincent, der
kein Romantiker war. »Ich müßte das Bett zerstören«, sagte er. »Ich könnte es
nicht ertragen.«
    Und sie, die einst Romantikerin war, schlief allein in ebendiesem
Bett und konnte sich nicht vorstellen, es zerstören zu wollen.)
    »Warum hast du es getan?« fragte Thomas.
    Er sah entschlossen auf die Skyline der nördlichen Stadt. Die Frage
hätte er schon vor Jahren stellen wollen. Seit fünfundzwanzig Jahren, um genau
zu sein.
    Sie konnte ihm zunächst nicht antworten. Wie in einem Film
beobachteten sie die Ausflugsboote und Tanker, die in den Hafen einfuhren.
    »Welchen Unterschied hätte es gemacht«, fragte sie. »Am Ende?«
    Er sah sie scharf an. »Wir hätten es zusammen schaffen können.«
    »Wie denn?«
    »Vielleicht mit der Zeit, wir hätten einen Weg gefunden.«
    »Du machst dir was vor.«
    »Aber die Art, wie es geschehen ist«, sagte er. »Du hast keinen
Ausweg zugelassen.«
    Vielleicht glaubte er, der Tod seiner Tochter berechtige ihn zu
Vorwürfen, dachte sie.
    »Ich war betrunken«, sagte sie. Sie, die normalerweise nicht nach
Ausreden suchte.
    »Nun, ja«, sagte er. »Aber es war mehr als das.

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