Der weiße Klang der Wellen: Roman (German Edition)
gehörte.
»Möchtest du über deinen Sohn sprechen?«
»Ein bißchen später«, sagte sie. »Ich brauche eine Minute. Einfach
bloß Leere.«
Thomas, der verstand, daß man einfach bloß Leere brauchte, saß neben
ihr auf dem Barhocker. Sie tauschten in dem Spiegel über der Bar Blicke aus.
»Man sollte annehmen, daß deine Tante dir nach all den Jahren
vergeben würde«, sagte Thomas. »Ist es nicht das, was die katholische Kirche
lehrt? Vergebung?«
»Meine Tante geht zur Messe. Ich wüßte nicht, was sie zu vergeben
hätte.«
Ihre Tante verbrachte ihre Tage in einem vollgestopften dunklen
Raum, den die Familie immer als Wirtschaftsraum bezeichnet hatte, saß dort auf
einem Sofa, das mit rauhem Karostoff bezogen war. Vor den beiden Fenstern
hingen Stores; der Fernseher bildete den Mittelpunkt des Raums. Ein Beutel mit
Häkelarbeit und ein Meßbuch lagen auf dem Ahorntisch neben dem Sofa. Linda war
dankbar für den täglichen Gang zur Messe: zumindest mußte ihre Tante dafür das
Haus verlassen und sich bewegen.
»Es stört mich, denn wenn ich sie sehe, möchte ich sie fragen, wie
es dir geht, und das kann ich nicht«, sagte Thomas.
Linda schwieg.
»Und wie geht’s Michael und Tommy und Eileen und all den anderen?«
fragte Thomas, nachdem ihm Auskunft über sie selbst verweigert worden war. Er
griff nach einer kleinen Schale mit Nüssen. Ihre Cousins und Cousinen waren für
ihn hauptsächlich Namen, die er mit bestimmten Gesichtern in Verbindung
brachte, obwohl er mit Michael Hockey gespielt und Jack sehr gemocht hatte.
Aber wie sollte man sechs komplizierte Leben, sechs verschiedene Leben voller
Sorge, Sieg und Scham in sechs Sätze pressen. Sie dachte einen Moment nach und
zählte dann mit Hilfe der Finger auf:
»Michael lebt in Marchfield mit einer Frau, die zwei Jungen hat. Sie
haben finanziell schwere Zeiten hinter sich. Tommy, der nicht aufs College
ging, kaufte Aktien von Cisco, als sie bei siebzehn Dollar standen, und hat
jetzt Millionen. Er ist nicht verheiratet. Eileen ist vermutlich am
glücklichsten von allen. Ihr Mann ist Anwalt in Andover.« ( »Das macht sie
glücklich?« warf Thomas ein.)
»Vincent und ich haben ihre Familie oft gesehen«, fügte Linda hinzu.
»Sie hat drei Kinder, alle sind jetzt mit der Schule fertig. Patty ist Bankerin
in New York. Sie ist ledig, was meine Tante ihr übelnimmt. Erin ist in
Kalifornien. Sie hatte Drogenprobleme. Sie war sogar einige Zeit im Gefängnis.«
Linda hielt inne, als sie merkte, wie geschockt Thomas reagierte. Er hatte Erin
nur als kleines hübsches Mädchen in einem rosa Kleidchen gekannt.
»Ich schätze, du hast auch die Sache mit Jack nicht erfahren«, sagte
sie ruhig.
Er drehte den Kopf, um sie anzusehen. Er, der jetzt wahrscheinlich
immer das Schlimmste erwartete. Oder vielleicht hatte er gehört, daß ihre
Stimme stockte.
»Er ist gestorben …« Sie brach ab, überrascht von den Tränen, die
wieder aufzusteigen drohten. »An Leukämie, mit vierzig. Meine Tante ist nie
darüber hinweggekommen. Er war ihr Liebling.« Linda griff nach einer Serviette,
für den Fall, daß sie sie brauchte. »Sich vorzustellen, daß der Jüngste von uns
als erster gehen mußte. Er hat eine Frau und zwei Babys zurückgelassen,
Zwillinge.«
Thomas schüttelte den Kopf. »Ich habe Jack Eislaufen beigebracht«,
sagte er fassungslos.
»Ich erinnere mich.« Sie blinzelte und andere Erinnerungen stiegen
in ihr auf. »Es war ein schrecklicher Tod. Manchmal bin ich froh, daß Vincent
auf diese Weise gestorben ist. So schnell. Vielleicht hat er gar nicht gewußt,
was mit ihm geschah.« Sie hielt inne, und Thomas’ Gebete für Billie fielen ihr
ein. Sie schneuzte sich und richtete sich auf. »Also, jetzt weißt du Bescheid.«
Thomas nickte nachdenklich.
»Wie stehen die Chancen, daß sechs Kinder ein hohes Alter
erreichen?« fragte sie. »Wahrscheinlich nicht sehr gut.«
»Besser als früher.«
»Ich habe mit der Gruppe zu Abend gegessen«, sagte sie. »Aber hast
du gegessen?«
»Nein. Ich bin nicht hungrig.«
»Was hast du heute auf der Podiumsdiskussion angestellt? Alle reden
nur davon.«
Thomas legte beschämt die Hand über die Augen. »Ich habe verloren«,
sagte er, nur vermeintlich beschämt.
»Was ist passiert?«
»Irgendeine Frau im Publikum hat mir vorgeworfen, ich würde Billie …«
Er brach ab. »Was in Ordnung war, finde ich. Aber dann griff dieser Robert
Seizek, der mit mir auf dem Podium saß, das Thema auf, und mich schüttelte es
fast
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