Der weiße Klang der Wellen: Roman (German Edition)
bei dem Gedanken, daß ein Romanschriftsteller, ein verdammter
Romanschriftsteller, solchen Mist von sich gibt. Und dann, nun …« Er brach
wieder ab.
Thomas’ Hemdkragen war offen, die Krawatte gelöst. Sein Hemd
bauschte sich über dem Gürtel, der tiefer saß als früher.
»Du wirkst sehr selbstzufrieden«, sagte sie.
»Es war eine langweilige Diskussion.«
Sie lachte.
»Ich habe heute eines deiner Bücher gekauft und beim Friseur ein
paar Stellen wiedergelesen«, sagte er. »Ich habe sogar den Klappentext noch
einmal gelesen.«
»Wirklich?« Das Eingeständnis berührte sie mehr, als sie zu zeigen
bereit war. Wann hatte Thomas Zeit dafür gefunden? Ihre Finger strichen nervös
über ihr Glas. Obwohl der Wodka zu wirken begann und ihren Magen langsam
aufwärmte.
»Unterrichtest du Literatur oder Schreiben?« fragte er.
»Ich halte hauptsächlich Workshops.«
Thomas gab ein anteilnehmendes Stöhnen von sich. »Ich habe das
versucht. Aber ich war nicht gut. Ich konnte einfach meine Verachtung für die
meisten Arbeiten nicht verbergen.«
»Das ist allerdings ein Problem.« Sie wandte sich ihm ein wenig zu
und schlug die Beine übereinander. Sie trug heute abend eine anders
geschnittene Bluse, aber denselben Rock. Er würde die Uniform als das erkennen,
was sie war.
»Wie sieht das College aus?« fragte er. »Ich war nie dort.«
Sie erklärte ihm, daß es ein Bau in Form eines Kreuzes sei, mit
einer Kapelle an einem Ende und, groteskerweise, einem Hotel am anderen. Es
gebe Steingebäude, Arkaden und bleiverglaste Fenster, die dieser
Oxford-Cambridge-Kopie, die erst während der letzten beiden Jahrzehnte erbaut
worden war, ein ehrwürdiges Gepräge verleihen sollten. Es sei ein College ohne
alle Extravaganzen und Häßlichkeiten, ohne all das bemüht Neue ,
das jedes College, das eine wirkliche Entwicklung hinter sich hatte,
herausstellen würde. Es sei ein Universum, das fix und fertig auf der
Bildfläche erschienen sei, ohne den Preis des Alterns bezahlt zu haben. (»Wie
Amerika«, sagte Thomas.) Manchmal komme es ihr vor wie eine Bühnenkulisse,
sagte sie, obwohl die Dramen, die dort aufgeführt würden, durchaus real seien:
man verzeichne eine ungewöhnlich hohe Zahl von Liebesaffären zwischen
Professoren und Studentinnen, Alkoholmißbrauch bei Verbindungsfesten, eine fast
epidemische Ausbreitung bewußter Schnittverletzungen (hauptsächlich bei Frauen)
und die leidigen Intrigen zwischen eifersüchtigen Talenten. »Ich sehe meine
Aufgabe hauptsächlich darin, die Studierenden zu ermutigen. Es ist schwierig,
jemandem das Schreiben beizubringen.«
»Ermutigst du auch die Unbegabten?«
»Das muß man.«
»Vergeudest du nicht einfach ihre Zeit? Und die deine?«
»Dafür bin ich da. Ich schätze, wenn ich einen wirklich
hoffnungslosen Fall hätte, würde ich Alternativen vorschlagen. Wenn ich den
Eindruck hätte, der Student käme überhaupt nicht zurecht. Aber ich bin ein
bißchen feige, was Kritik anbelangt. Ich gebe ungern schlechte Noten.«
Er lächelte.
»Ich habe mit Mary Ndegwa zu Abend gegessen«, sagte sie.
»Ich hatte kaum Gelegenheit, sie zu sehen.«
»Sie schildert sehr anschaulich, was sie verpaßt hat.«
»Nun, das ist die Quintessenz ihres gesamten Schreibens.«
»Ihr Sohn, Ndegwa, arbeitet im Finanzministerium.«
Thomas schüttelte den Kopf – ein Mann, der sich weitgehend isoliert
hatte und deshalb von Veränderungen verwirrt war; ein Mann, dessen Kind mit
fünf Jahren das Leben verloren hatte. »Baby Ndegwa«, sagte er mit einem Anflug
von Wehmut. »Ich war nie in der Lage, über Kenia zu schreiben. Es scheint nicht
zu mir zu gehören.«
»Wir waren nur Besucher.«
In einem Nebenraum begann ein Mann, Klavier zu spielen. Die Bar
füllte sich jetzt sehr schnell. Sie und Thomas mußten lauter sprechen, um sich
zu verstehen.
»Manchmal denke ich an Peter«, sagte Thomas. »Ich wünsche mir oft,
ich könnte ihn einfach anrufen und mich entschuldigen.«
Linda nahm einen Schluck von ihrem Drink. »Ich kann mich nicht
erinnern, wie es war, mit ihm zu schlafen«, sagte sie. »Was wir gemacht haben,
meine ich. Ich weiß, daß es passiert ist, aber ich habe keine Vorstellung
davon. Und ich kann nicht verstehen, wie ich mit jemandem so intim sein konnte,
ohne eine konkrete Erinnerung an die gemeinsamen Nächte zu haben. Ich weiß
nicht, ob ich es einfach vergessen habe oder ob ich bloß nicht besonders
aufmerksam war.« Sie hielt inne und schüttelte den Kopf. »Wie schrecklich,
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