Der weiße Klang der Wellen: Roman (German Edition)
Und sie hielt es für gar nicht so unwahrscheinlich, bei einem
anderen Mann eine andere Frau zu sein, denn all diese Anlagen schlummerten in
ihr und warteten nur darauf, von einem anderen Menschen oder anderen Umständen
erweckt zu werden. Es gefiel ihr, diese Entdeckung zu machen, und zwar so sehr,
daß sie, als sie nach Ablauf dieses ersten herrlichen Wochenendes in ihr Zimmer
in der Fairfield Street zurückkehrte, beim Anblick der Badewanne auf dem Podest
und dem einzelnen Plastikteller auf dem Geschirrständer zurückschreckte. Sofort
ging sie los und kaufte Teller, um sie auf den Geschirrständer zu stellen,
sowie eine Marimekko-Decke für ihr Bett, um Vincent nicht in die Flucht zu
schlagen und sich selbst keine Gelegenheit zu geben, wieder dem alten Sog zu
verfallen. Als Vincent zum erstenmal kam, in der Tür ihres Appartements
stehenblieb und sich umsah, fügte er die Einzelteile so zusammen, daß sie zu
der Person paßten, die er kannte (als entwürfe er ein Haus, dachte sie später,
nur umgekehrt). Und auch sie begann, ihre Umgebung wahrzunehmen – eher
schmucklos als schäbig.
Maria war leicht zur Welt gekommen, aber Marcus (prophetischerweise)
unter schmerzvollen Komplikationen. Inzwischen lebten sie in einem Haus in
Belmont, das für Vincent wegen seines banalen Designs und seiner schlechten
handwerklichen Verarbeitung eine Herausforderung darstellte. (Vincent, der Sohn
eines Bauunternehmers, war ein Mann, der schlechte Fugenarbeit auf den ersten
Blick erkannte.) Linda unterrichtete nicht, Vincent hatte ein eigenes Geschäft
eröffnet und steckte alles Geld, das er verdiente, wieder in die Firma (was sie
richtig fand), und es blieb ihnen wenig zum Leben; doch wenn sie je
anstrengende Zeiten hatten, dann nur damals, als ihnen Babys und unbezahlte
Rechnungen die Ruhe nahmen. Aber im großen und ganzen empfand sie diese ersten
Jahre als eine schöne Zeit. Wenn sie in Belmont in ihrem kleinen Garten hinterm
Haus saß (der Grill, die Schaukel, das Plastikplanschbecken) und Vincent und
den Kindern beim Pflanzen der Tomaten zusah, war sie zutiefst erstaunt, daß ihr
dies entgegen aller Erwartung geschenkt worden war, daß sie und Vincent diese
Familie gegründet hatten. Sie konnte sich nicht vorstellen, was aus ihr
geworden wäre, wenn das nicht geschehen wäre, denn die Alternative hierfür sah
sie nur in anhaltend quälenden Kopfschmerzen, für die es wenig Erleichterung
gegeben hätte. Eines Morgens, als Marcus schlief und Maria in der
Montessori-Schule war, setzte sich Linda an den Küchentisch und schrieb keinen
Brief an sich, sondern ein Gedicht, eine andere Art von Brief. Das Gedicht
handelte von Fenstern, Kindern, Glasscheiben und zarten, gedämpften Stimmen,
und während der nächsten Tage stellte sie fest, daß, wenn sie schrieb und an
Sprachbilder und Sätzen feilte, die Zeit wie im Flug verging, so daß sie oft
verblüfft war, wenn sie auf die Uhr sah und bemerkte, daß sie zu spät dran war,
um Maria abzuholen oder Marcus rechtzeitig zu wecken. Ihre Phantasie begann, in
Schwung zu kommen, und selbst wenn sie nicht schrieb, brachte sie oft rasch
Verszeilen oder ungewöhnliche Wortverbindungen zu Papier. Und war im
allgemeinen geistesabwesend. So sehr, daß Vincent es bemerkte und sie darauf
ansprach, und sie, die monatelang im Geheimen geschrieben hatte, holte den
Stapel Papiere heraus und zeigte sie ihm. Sie verging fast vor Angst, während
er las, denn die Gedichte offenbarten eine Seite von ihr, die Vincent nicht
kannte und vielleicht nicht kennenlernen wollte (schlimmer noch, er könnte
wissen wollen, mit wem diese Linda zusammen war, denn einige Gedichte handelten
von Thomas, selbst wenn es nicht deutlich wurde). Aber Vincent fragte nicht,
sondern sagte, sie seien seiner Meinung nach sehr gut; und er schien aufrichtig
beeindruckt zu sein, daß seine Frau dieses Talent besaß, von dem er nichts gewußt
hatte. Für sie war dies ein Geschenk, und sie schrieb mit doppelter Energie
weiter, und nicht nur, wenn die Kinder aus dem Haus waren oder schliefen,
sondern bis spät in die Nacht hinein; sie füllte die Seiten mit Worten und
formte diese zu kleinen Gegenständen, die im Geist festgehalten werden konnten.
Und Vincent sagte nie: »Schreib nicht diese Worte über einen anderen Mann«
(oder später dann, über ihn selbst), und befreite sie damit von der schärfsten
Zensur, die es gibt, der Angst, andere zu verletzen.
Abends besuchte sie einen Lyrik-Workshop und war verblüfft (und
heimlich
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