Der weiße Klang der Wellen: Roman (German Edition)
dann, Wochen später, als ich danach suchen wollte, waren sie
verschwunden. Nirgendwo zu finden. Ich versuchte, indirekt nachzufragen, aber
er schien zu wissen, wovon die Rede war. Es ist ein Rätsel. Bis zum heutigen
Tag weiß ich nicht, was mit ihnen geschehen ist.«
»Er hat sie vernichtet«, warf Thomas ein.
Eine solch heimtückische Tat konnte sich Linda nicht vorstellen.
Vincent hatte weder den Wunsch noch die Fähigkeit zu hinterhältigem Handeln.
Wohingegen sie und Thomas absolute Experten darin waren.
Arme wurden über Stuhllehnen gelegt. Essen wurde verschlungen oder
ignoriert. Spiegel an den Wänden reflektierten die Essenden und zeigten
Gesichter, die vorher verborgen waren. Eine Kohorte kleiner Männer in fleckigen
Schürzen schlängelte sich wie Tänzer an den schmalen Tischen vorbei. Da es
keine Fenster gab, die an den Regen erinnert hätten, herrschte eine traute
Atmosphäre im Raum. Diejenigen, die keine Begabung für Konversation hatten,
litten.
»Wann hast du geheiratet?« fragte Thomas leichthin.
Gespräche über die Vergangenheit riefen wieder Schmerz hervor,
dachte sie, obwohl es töricht war, anzunehmen, sie könnten eine Unterhaltung
fortführen, ohne auf das Schlimmste zu sprechen zu kommen, das zwischen ihnen
geschehen war.
»1976«, sagte sie.
»Vor vierundzwanzig Jahren.«
Sie nickte, und im nächsten Moment wußte sie, woran er dachte: an
sie, wie sie sich auf die Hochzeit vorbereitete. An sie, die leidenschaftliche
körperliche Liebe für einen anderen empfand.
»Und du hast Kinder, nicht wahr?« fragte er. »Das habe ich, glaube
ich, gelesen.«
»Ich habe eine dreiundzwanzigjährige Tochter und einen
zweiundzwanzigjährigen Sohn.«
Und damit war es heraus: die Erwähnung ihrer Kinder.
Sie beobachtete Thomas, der sich bemühte, seine Gesichtszüge unter
Kontrolle zu bringen. Wie abgrundtief mußte der Schmerz sein, der sich fast ein
Jahrzehnt später in unaufhaltsamen Tränen ausdrückte.
»Wie heißen sie?«
»Maria und Marcus.«
»Maria und Marcus …?«
»Bertollini.«
»Der Name deines Mannes.«
»Vincent«, sagte sie, ohne hinzuzufügen, daß er gestorben war.
»Damit ich’s mir vorstellen kann.«
Sie nickte.
»Du kleidest dich inzwischen wirklich wundervoll.« Thomas hielt den
Blick auf ihr Gesicht gerichtet, als er das sagte, obwohl sie wußte, daß er sie
bereits taxiert hatte.
»Danke«, sagte sie einfach.
»Billie wäre dieses Frühjahr zwölf geworden«, sagte Thomas.
Laut ausgesprochen, klang der Name überaus traurig und herb. An der
Anspannung seiner Lippen konnte sie ablesen, was es ihn kostete.
»Das Boot war mit Wasser vollgesogen und morsch. Die Toilette im Bug
stank. Man konnte Rich in der vorderen Kabine vögeln hören …«
Einen Moment lang konnte er nicht weitersprechen.
»Wir waren auf dem Weg nach Maine«, sagte er und hatte jetzt das
Zittern in seiner Stimme besser unter Kontrolle. »Rich und seine Freundin waren
an Bord. Und Jean, meine Frau.« Er sah zu Linda auf. »Und unsere Tochter
Billie.«
»Thomas, hör auf«, sagte sie ruhig. »Du mußt das nicht tun. Ich habe
damals über den Unfall gelesen.« Tatsächlich konnte sie sich nur allzugut
erinnern, wie sie damals, wie jeden Morgen, den Boston Globe durchblätterte (Vincent mit der Times am anderen Ende
des Tisches; ihre Hand war von Marmelade klebrig) und wie die Worte THOMAS JANES und TOCHTER und ERTRUNKEN ausgesehen hatten, die unmöglichen,
schreienden Großbuchstaben, alle in einer Schlagzeile. Wie Vincent sofort seine
Zeitung weggelegt und gesagt hatte: ›Linda, was ist los?‹
Ein Kellner, der Teller balancierte, erzeugte eine künstliche Pause.
»Es war nicht Jeans Schuld, obwohl ich ihr die Schuld daran gab.«
Linda beobachtete, wie Thomas’ Finger den Stiel ihres Glases
umklammerten. Natürlich konnte sie nicht bestimmen, wie er diese Geschichte
erzählen sollte.
»Gott, wie ich sie verfluchte. Ich hätte sie umgebracht auf dem
Boot, wenn ich die Kraft oder den Mut dazu aufgebracht hätte.«
Linda drückte die gefalteten Hände auf den Mund. ›Wie sehr wir uns
bemühen, nicht auszusprechen, was uns auf der Zunge liegt‹, dachte sie.
Sie sah sich im Raum um, blickte in all die begierigen und
angespannt neugierigen Gesichter, die ihnen zugewandt waren. Es war schrecklich.
Hier konnten sie nicht bleiben.
»Thomas«, sagte sie und stand auf. »Komm mit.«
Sie gingen auf einem Quai entlang, der sich in den See hinaus
erstreckte. Der Sprühregen spann ein Netz
Weitere Kostenlose Bücher