Der weiße Klang der Wellen: Roman (German Edition)
könnte?«
»Nein, ich glaube nicht«, sagte die Frau. »Aber Sie sollten sie nach
Hause bringen. Nicht heute abend, aber gleich morgen früh. Wir haben einen
Lieferwagen, der um 6 Uhr 45 in die Stadt fährt. Damit erreichen Sie die
Maschine um 7 Uhr 30 nach Nairobi.«
Aber sie fährt nicht nach Nairobi, dachte Thomas.
»Jedenfalls«, fuhr die Frau fort, noch immer den Löffel in der Hand
haltend, »haben Sie Glück.« (Nein, das habe ich nicht, dachte Thomas.) »Ein
Mann und eine Frau, die getrennt angekommen sind, haben beschlossen, ein
gemeinsames Zimmer zu nehmen.«
»Wie optimistisch«, sagte Thomas.
»Ja. Ziemlich. Aber dadurch haben wir ein freies Zimmer.«
»Danke. Ist es schon fertig?«
»Nehmen Sie den Schlüssel«, rief ihm die Frau über die Schulter zu,
als sie zur Toilette ging. »Er liegt in dem Fach dort. Nummer 27. Ich bringe
sie dann rüber.«
Was wohl hieß: Sie wollte nicht, daß er sie jetzt sah.
Das Zimmer war überraschend einfach und ansprechend. Es war fast
ganz in Weiß gehalten. Weiße Wände, weißes Bettzeug, weiße Vorhänge,
khakifarbener Sisalteppich. Eine Frisierkommode mit elfenbeinfarbener Rüsche.
Der Mangel an Farbe zog den Blick auf den Ozean hinaus, auf das türkis- und
dunkelblaue Wasser. Ein schönes Zimmer zum Kranksein, dachte er. Es belastete
das Auge nicht. Obwohl es unmöglich war, nicht daran zu denken, wie es hätte
sein können: eine Nacht in diesem Raum mit Linda, die sich wohl fühlte.
Glücklich war.
Er ging zum Fenster und prüfte die Aussicht. Könnten sie je
glücklich sein? fragte er sich. Jedes Zusammentreffen – vorausgesetzt, es gäbe
überhaupt welche – müßte heimlich stattfinden, eine Bedingung, mit der sich
keiner von ihnen auf Dauer abfinden würde. Und wenn sie die Katastrophe
zuließen, könnten sie beide mit den Folgen leben? Was für Chancen, glücklich zu
sein, hätten sie dann?
An einem Tisch nicht weit vom Fenster sah der alte Mann mit
tränenden Augen auf die Frau ihm gegenüber. Niemand würde bezweifeln, daß er
sie liebte. Thomas wollte eigentlich die Vorhänge schließen, aber er zögerte,
das Bild des alten Paars zu verdecken, die vielleicht selbst heimliche Liebende
waren. Sie wirkten beruhigend wie ein gutes Omen.
Es wäre einfach zu sagen, wie ungerecht das Schicksal ihnen
mitgespielt hatte. Er war es gewesen, der nicht nach Middlebury gefahren war,
sie war es gewesen, die ihm in jenem Sommer nicht geschrieben hatte. Warum
hatte er nicht Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt, um zu ihr zu kommen?
»Tut mir leid«, sagte Linda hinter ihm.
»Macht nichts«, sagte Thomas und ging auf sie zu.
Sie wandte das Gesicht ab, wollte nicht geküßt werden, nicht einmal
auf die Wange. Sie setzte sich aufs Bett. Die englische Frau, die sie
hereingebracht hatte, stellte Flaschen mit Mineralwasser und Coca-Cola auf den
Frisiertisch.
»Geben Sie ihr kleine Schlucke Coca-Cola zu trinken«, sagte die
Frau. »Es hilft, ihren Magen zu beruhigen. Obwohl es mich wundern würde, wenn
sie nicht gleich einschliefe.«
Als sie fort war, zog Thomas Linda die Sandalen aus. Ihre Füße waren
hart und schmutzig, schrundig an den Fersen. Ihre schön gebräunten Beine
standen in hartem Kontrast zu der Blässe ihres Gesichts; die Beine und das
Gesicht schienen verschiedenen Menschen zu gehören. Ihre Lippen waren bereits
spröde und in der Mitte aufgesprungen.
»Du brauchst Wasser«, sagte er. Er brachte ihr ein Glas Wasser und
hielt es ihr an den Mund, aber sie war fast zu müde, um zu schlucken. Ein
bißchen davon floß ihr über den Hals, und er tupfte es mit dem Laken ab. Er
versuchte nicht, ihr das Kleid auszuziehen, sondern legte sie angezogen unter
die Decke. Sie verlor immer wieder das Bewußtsein, schien aber bei klarem
Verstand zu sein, wenn sie zu sich kam. Sie sagte seinen Namen und »tut mir
leid«, woran er sie nicht hinderte. Er lehnte Kissen gegen das Kopfteil, saß,
die Hand auf ihren Kopf gelegt, neben ihr und streichelte ab und zu ihr Haar,
manchmal berührte er sie nur. Welcher Sturm auch immer durch sie hindurchgefegt
sein mochte, er schien sich gelegt zu haben, aber Thomas wußte, daß er
wiederkommen würde, und es konnte Tage dauern, bevor sie wieder essen konnte.
Er hoffte, daß es keine Fischvergiftung war. (Sie mußte gegen Cholera geimpft
worden sein, dachte er.) Trotz der Wendung, die die Sache genommen hatte, war
er zufrieden, einfach neben ihr zu sitzen, fast so zufrieden, wie er sich in
dem Haus gefühlt hatte. Und als
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