Der weiße Klang der Wellen: Roman (German Edition)
nicht gesehen hat. Sie lebt in einer
Hütte, die aus einem Raum besteht, der an ein langes Holzgebäude in Nairobi
angebaut ist. Sie läßt ihre Kinder bei ihrer Mutter in Njia, damit sie Geld verdienen
kann, um das Schulgeld für die Kinder zu bezahlen, oder, wie sie es ausdrückt,
um »ihr Glück zu machen«. Das Glück beläuft sich auf 40 $ im Monat, die sie als
Dienstbotin in einem europäischen Haushalt verdient. Sie arbeitet von sechs Uhr
früh bis sieben Uhr abends, sechs Tage die Woche, um 1.50 $ am Tag zu
verdienen. Von den 40 $ schickt sie 20 $ an die Kinder und bezahlt 10 $ für den
einzelnen Raum, in dem es weder Elektrizität noch fließendes Wasser gibt.
Nachts hat sie oft Angst, weil betrunkene Männer aus den Bars in der Umgebung
ihre verriegelte, aber wenig stabile Tür einzudrücken versuchen. Ich habe die
Frau kennengelernt, als ihre Mutter sie in mein Klassenzimmer brachte. Die
Mutter wollte, daß ich ihrer Tochter half, weil sie krank sei. »Meine Titties
tun mir weh«, sagte Dymphina.
Mein Unglück, Dich nicht sehen zu können, sollte angesichts dessen
nicht zählen. Warum kann ich dann an nichts anderes denken?
Mit diesem Brief schicke ich Dir eine Schatulle, die ich in Malindi
gekauft habe. Sie ist nicht aus Alabaster, obwohl ich so tue, als wäre sie’s.
In Liebe
L.
20. Februar
Liebe Linda,
endlos habe ich auf Nachricht von Dir gewartet und war krank vor
Sorge, daß es Dir noch immer schlechtgehen könnte und Du Dich nicht erholt
hättest. Ich war überzeugt, nie mehr von Dir zu hören. Daß Du das Debakel auf
Lamu als das nehmen könntest, was es scheinbar wahr, in Wahrheit aber nicht:
die Strafe für unsere Liebe.
Ich muß Dich wiedersehen. Darf ich nach Njia kommen? Gibt es einen
Zeitpunkt, zu dem Peter ganz sicher nicht da ist?
Ich bin kaum noch bei Sinnen. Auch ich rauche und trinke zuviel. Das
scheint das einzige Gegenmittel zu sein. Regina bemerkt meine
Geistesabwesenheit, glaubt aber, es sei die übliche Unzufriedenheit mit dem
Leben, die sie schon kennt und die sie für mehr oder weniger normal hält. Ich
kann kaum mit ihr sprechen, auch mit anderen Menschen nicht. Ich bin zu
ungeduldig. Ich will mich nur mit Dir beschäftigen.
Ich arbeite. Ich schreibe über Dich. Seltsamerweise nicht über Dich
in Afrika, sondern in Hull. Ich verstehe Afrika nicht. Ich sehe dieses und
jenes (eine blühende Lobelie, einen Touristen, der einen asiatischen
Ladeninhaber anraunzt, eine Hyäne, die am Rand eines Waldes auf der Lauer
liegt), und es kommt mir vor, als sähe ich einen exotischen, phantastischen
Film. Ich komme darin nicht vor. Ich bin kein Darsteller. Ich sitze im
Publikum. Ich schätze, das gestattet mir, den Film zu kritisieren, aber nicht
einmal dazu sehe ich mich in der Lage.
Danke für die steinerne Kisii-Schatulle. Ich werde sie immer in
Ehren halten. Ich nehme an, sie ist eine Anspielung auf das Gefäß, in dem
Magdalena ihre kostbaren Salben aufbewahrte? (Ich sehe, daß Du Deine eigenen
Nachforschungen angestellt hast.) Ich kenne Dich zu gut, um anzunehmen, Du
wolltest mit dieser Geste Männern schöntun, oder einem Mann, und deshalb
verstehe ich es als Liebesunterpfand, was es sicher auch ist. Gott ist ohnehin
in uns allen. Hast Du das nicht gesagt?
Die Planungen wegen Ndegwa »treten in die heiße Phase«, wie man hier
sagt. Wirst du am 5. in Nairobi sein? Ich werde mich jedenfalls um eine
Einladung kümmern. Es werden ein paar Leute kommen, die ich Dir gern vorstellen
würde, vor allem Mary Ndegwa, die ihren ersten Band mit Gedichten veröffentlicht
hat – sie sind präzise, streng und außerordentlich rhythmisch, was mir gefällt.
Es wäre unfair zu behaupten, daß sie von der Publicity profitiert hat, aber der
Band ist jetzt da. Sie scheint ein Fels in der Brandung zu sein und die
Auseinandersetzungen gut zu meistern. Denn wenn man zu viel Theater macht über
etwas, was die Regierung getan hat, besteht immer die Gefahr, in ein Wespennest
zu stechen. Im Augenblick riskiert sie ihre eigene Freiheit. Ich riskiere,
möglicherweise ausgewiesen zu werden (was mir nicht viel ausgemacht hätte,
bevor ich Dich getroffen habe; jetzt wäre es eine Horrorvorstellung, und ich
müßte darauf bestehen, daß Du ebenfalls nach Hause fährst; aber natürlich
könntest Du das nicht, oder? – nicht bevor Deine Dienstzeit abgelaufen ist; wie
streng sind sie in dieser Hinsicht?). Regina haßt mein Engagement. Sie nennt es
unaufrichtig, was natürlich stimmt, obwohl ich Ndegwa sehr
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