Der weiße Reiter
Wie sich später herausstellte, vermutete Alfred zu Recht, dass sich
der ganze Osten von Wessex in dänischer Hand befand, dennoch aber weite Gebiete des Landes immer noch frei waren. Auf ihren
Raubzügen stießen Guthrums Männer zwar auch bis in diese Gebiete vor, doch fehlte es ihnen an Kräften, um in Städten wie Wintanceaster,
Gifle oder Dornwaraceaster Festungen einzurichten. Wie wir alle wussten, würden im Frühsommer neue Schiffe mit Soldaten aus
Dänemark eintreffen. Alfred musste also vorher zuschlagen. Deshalb berief er am Tag nach Beoccas Ankunft eine Ratsversammlung
ein.
Auf Æthelingæg gab es inzwischen genug Männer, um das höfische Zeremoniell durchzuführen. Ich konnte Alfred nicht mehr abends
zum Gespräch aufsuchen, während er vor einer Hütte saß, sondern musste um eine Audienz bitten. An dem Montag der Ratsversammlung
verlangte Alfred eines der größeren Häuser auf der Insel zu einer Kirche umzubauen. Die Familie, die bisher in diesem Haus
gelebt hatte, musste sich eine andere Unterkunft suchen. Einige der neu angekommenen Soldaten bekamen den Auftrag, ein Kreuz
über dem Giebel zu errichten und Fenster in die Außenwände zu stemmen. Der Rat versammelte sich in Haswolds früherem Palas.
Alfred wartete mit |283| seinem Erscheinen, bis alle anderen eingetroffen waren. Wir alle standen auf, als er zur Tür hereinkam und auf einem der beiden
Sitze auf dem neu gezimmerten Podest neben Ælswith Platz nahm. Auf ihrem Silberfuchs, der ihren schwangeren Bauch verhüllte,
waren immer noch Flecken von Haswolds Blut zu erkennen.
Wir durften uns erst wieder setzen, als der Bischof von Exanceaster ein Gebet gesprochen hatte, und das dauerte seine Zeit.
Endlich aber bedeutete uns der König durch eine Geste, dass wir uns hinsetzen konnten. Der im Halbkreis gruppierte Rat bestand
aus sechs Priestern und ebenso vielen Kämpfern. Zu den Letzteren zählten neben Leofric und mir vier weitere Soldaten, die
neu eingetroffen waren und in Alfreds Haustruppe gedient hatten. Einer von ihnen war ein graubärtiger Mann namens Egwine,
der erzählte, dass er in der Schlacht bei Æscs Hügel hundert Männer angeführt hatte, und der nun den Oberbefehl über alle
hier in den Sümpfen zusammengezogenen Männer beanspruchte. Ich wusste, dass er den König und Beocca drängte, eine Entscheidung
in seinem Sinn zu treffen. Beocca hatte vor dem Podest an einem wackligen Tisch Platz genommen, an dem er mitzuschreiben versuchte,
was im Rat gesprochen wurde. Damit hatte er allerdings seine Schwierigkeiten, denn die Tinte war alt und ihre Farbe verblasst,
der Federkiel splitterte, und als Pergamente standen ihm nur die abgeschnittenen Ränder eines Messbuches zur Verfügung. Er
machte daher einen unglücklichen Eindruck, doch Alfred legte großen Wert auf Mitschriften.
Der König bedankte sich für das Gebet des Bischofs und stellte vernünftigerweise fest, dass wir uns erst mit Guthrum würden
beschäftigen können, wenn Svein geschlagen sei. Obwohl ein Großteil seiner Männer nach Süden gezogen |284| war, um Defnascir auszurauben, stellte Svein für uns die unmittelbarste Bedrohung dar, denn er hatte immer noch seine Schiffe,
mit denen er in den Sumpf eindringen konnte. «Vierundzwanzig Schiffe», sagte Alfred und sah mich fragend an.
«Vierundzwanzig, Herr», bestätigte ich.
«Er könnte also, wenn er alle seine Kräfte zusammenzieht, ein tausendköpfiges Heer aufstellen.» Alfred ließ diese Zahl eine
Weile auf uns wirken. Beocca runzelte die Stirn, als sein gesplitterter Federkiel Tinte auf seinen winzigen Pergamentstreifen
spritzte.
«Vor wenigen Tagen», fuhr Alfred fort, «waren bei den Schiffen an der Mündung des Pedredan allerdings nur siebzig Wachleute
anzutreffen.»
«Ungefähr siebzig», sagte ich. «Vielleicht waren auch mehr da, und wir haben sie nicht gesehen.»
«Alles in allem weniger als hundert?»
«Das ist anzunehmen, Herr.»
«Um die müssten wir uns also kümmern», sagte Alfred, «bevor die anderen zu den Schiffen zurückkehren.» Es blieb lange still.
Mit unserer Kampfkraft war es, wie wir alle wussten, nicht weit her. Es kamen zwar täglich ein paar Männer bei uns an, wie
das halbe Dutzend in Beoccas Begleitung, aber es waren immer wenige. Vielleicht lag es daran, dass sich die Kunde von Alfreds
Plänen nur langsam verbreitete, vielleicht aber auch nur an der Kälte, denn an regnerischen, kalten Tagen ist schließlich
niemand
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