Der weiße Reiter
war es. Ein Name wurde aufgerufen, und aus dem Gedränge neben der Tür löste sich ein junger Priester mit feistem, finsterem
Gesicht. Er eilte so schnell nach vorn, als fürchtete er, der Tag reiche zur Erfüllung seines Auftrags nicht aus. Er verbeugte
sich vor dem König, nahm ein Pergament von dem Tisch, an dem die beiden Schreiber saßen, und stellte sich in die Mitte des
Halbkreises der Räte.
«Wenn es der Witan gestattet, sollten wir uns nun mit |169| einer sehr dringlichen Angelegenheit befassen», sagte Alfred. Natürlich mochte dem niemand widersprechen. Mit einem leisen
Gemurmel wurde die Unterbrechung der eher weltlichen Fragen gebilligt. Alfred nickte. «Pater Erkenwald wird die Klageschrift
verlesen», sagte er und kehrte auf seinen Thron zurück.
Die Klageschrift? Ich war verwirrt wie ein von Hunden und Lanzenträgern umzingelter Eber, unfähig, mich zu bewegen, und so
stand ich reglos da, als Pater Erkenwald das Pergament ausrollte. Er räusperte sich und las mit hoher, klar verständlicher
Stimme: «Uhtred von Oxton, Ihr werdet heute des Verbrechens beschuldigt, ohne die Einwilligung unseres Königs ein Schiff seiner
Flotte genommen, es nach Cornwalum gesteuert und, ebenfalls ohne die Einwilligung des Königs, Krieg gegen die Britonen geführt
zu haben. All das können Männer unter Eid beschwören.» Erneut war Gemurmel zu hören, das aber der König mit erhobener Hand
zum Schweigen brachte. «Ferner werdet Ihr beschuldigt», fuhr Erkenwald fort, «Euch mit einem Heiden namens Svein verbündet
und mit seiner Hilfe Christenmenschen in Cornwalum getötet zu haben, obwohl sie in Frieden mit unserem König lebten. Auch
das können wir durch Eide beweisen.» Er legte eine Pause ein, und nun war es totenstill in der Halle. «Ferner werdet Ihr beschuldigt»,
Erkenwald las mit gedämpfter Stimme weiter, als könne er selbst nicht glauben, was da stand, «gemeinsam mit dem Heiden Svein
in einem hinterhältigen und frevlerischen Anschlag die Kirche von Cynuit ausgeraubt und Euch damit an unserem gesegneten Königreich
versündigt zu haben.» Dieses Mal folgte kein Gemurmel, sondern ein lauter Ausbruch der Empörung, und Alfred ließ die Leute
gewähren, sodass Erkenwald die Stimme erheben musste, um die Klageschrift zu Ende zu |170| lesen. «Und auch das», er schrie inzwischen fast, «können Männer beschwören.» Er senkte das Pergament, bedachte mich mit einem
Blick voller Abscheu und kehrte an den Rand des Podestes zurück.
«Er lügt», knurrte ich.
«Ihr werdet noch Gelegenheit haben, Euch zu verteidigen», entgegnete mit grimmiger Miene ein Geistlicher, der neben Alfred
saß. Er trug eine Mönchskutte, darüber aber ein Messgewand, das über und über mit Kreuzen bestickt war. Er hatte dichtes weißes
Haar und eine tiefe, ernste Stimme.
«Wer ist das?», fragte ich Beocca.
«Seine Heiligkeit Æthelred», flüsterte Beocca und erklärte, als er sah, dass der Name mir nichts sagte, «der Erzbischof von
Contwaraburg.»
Der Erzbischof beugte sich vor und wechselte ein paar Worte mit Erkenwald. Ælswith starrte mich an. Sie hatte mich noch nie
gemocht, und als sie jetzt meiner Vernichtung beiwohnte, machte sie aus ihrer Genugtuung kein Hehl. Alfred sah sich inzwischen
äußerst genau die Balkenkonstruktion unter der Decke an, als sähe er sie zum ersten Mal. Er wollte sich offenbar aus diesem
Gerichtsverfahren heraushalten, denn ein Gerichtsverfahren war es, und es anderen überlassen, meine Schuld nachzuweisen. Das
Urteil aber würde er zweifellos selbst fällen, und es schien, dass nicht nur ich seinen Spruch zu fürchten hatte, denn der
Erzbischof erkundigte sich finster: «Ist der zweite Gefangene anwesend?»
«Er wird im Stall festgehalten», sagte Odda der Jüngere.
«Man bringe ihn her», verlangte der Erzbischof entrüstet. «Jedermann hat ein Recht darauf, seine Ankläger zu hören.»
|171| «Von wem ist die Rede?», wollte ich wissen.
Es war Leofric, der in Ketten nach vorn geführt wurde. Empörte Ausrufe waren diesmal nicht zu hören, denn alle hielten ihn
für meinen Gefolgsmann. Ich war der Schuldige, und Leofric war mit in die Falle gegangen, und dafür musste er jetzt büßen.
Die Männer in der Halle empfanden Mitleid mit ihm, und sie wussten, dass er aus Wessex stammte, während ich ein Eindringling
aus Northumbrien war. Leofric warf mir einen reumütigen Blick zu, als er von den Wachen aufgefordert wurde, sich an
Weitere Kostenlose Bücher