Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der weite Weg nach Hause

Der weite Weg nach Hause

Titel: Der weite Weg nach Hause Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rose Tremain
Vom Netzwerk:
gemalt hatte. Die Kinder trugen alle pelzbesetzte Anoraks wie den, den Lev in der Holloway Road für Maya gekauft hatte. Ihre Füße in den Schlittschuhen waren riesig.
    Lev legte sich auf sein Etagenbett und rauchte und hielt sich das Bild dicht vors Gesicht. Er versuchte zu erkennen, welches Kind Maya war, und er dachte, dass Kindergesichter sehr schnell alterten und dass Maya beim Wiedersehen nicht mehr die Tochter sein würde, die er in Erinnerung hatte. Auf der Rückseite des Bilds stand eine Botschaft:
    Lieber Papa,
    ich habe mir die Nase wehgetan. Ich bin auf dem Eis hingefallen. Meine Nase ist ganz blau geworden. Lili weint. Ich wasche ihre Windel.
    Alles Liebe von Maya XX
    Lev schloss die Augen. Die Zigarette in seiner Hand war nur noch ein Stummel.
    Seine Gedanken wanderten zurück zu dem Abend von Marinas dreißigstem Geburtstag auf Rudis Veranda. Unter einem aprikosenfarbenen Mond aßen Marina und er, zusammen mit Rudi und Lora, Ente und Bratkartoffeln und tranken Rotwein. Auf dem Tisch flackerten Kerzen im nächtlichen Sommerwind, und an Marinas Füßen saßen die roten Schuhe, die Lev ihr geschenkt und die ihr Freudentränen in die Augen getrieben hatten.
    Auf einem batteriebetriebenen Kassettenrekorder, den Rudi auf dem Flohmarkt in Glic ergattert hatte, spielten sie Volksmusik, und als sie fertig mit dem Essen waren, erhoben sich alle vier, um zu tanzen. Der Mond ging unter, und sie tanzten immer noch. Die Kerzen verlöschten, und sie tanzten weiter unter den Sternen. Rudi schenkte noch mehr Wein ein. Sie tanzten mit den Gläsern in der Hand. Sie prosteten Marina zu und wünschten ihr ein langes Leben, und Lev küsste sie auf den Mund und schmeckte den Wein auf ihrer Zunge und sagte ihr, er werde sie lieben, solange er lebe. Sie begannen mit ihrem berühmten Tango, und er hörte das Klacken und Stampfen von Marinas neuen roten Schuhen auf dem Holzboden der Veranda und sah, wie sie ihre schlanken braunen Beine warf. Und sie rief in die dunkle Nacht hinaus, sie wünsche sich ein Kind. Sie ließ es ganz Auror wissen.
    Hunde bellten, und Nachtvögel schrien schrill in den Bergen.
    Sie war sternhagelvoll, aber es war ihr egal. Rudi und Lora begannen herumzustolpern und versuchten, die schmutzigenTeller und Schüsseln abzuräumen. »Mach ihr ein Kind!«, schrie Rudi, und ein Schwall schmutzigen Bestecks fiel auf seine Schuhe. »Heute Nacht sind wir unsterblich, Kamerad. Wir sind über das Sterbliche hinaus. Mach ihr ein unsterbliches Kind!«
    Und so lag er dann mit Marina in Rudi und Loras Hinterzimmer. Eine Öllampe flackerte an der weiß getünchten Wand. Eine Flickendecke, die nach Mottenkugeln roch, deckte sie zu, aber sie waren nackt bis auf die roten Schuhe, die Marina nicht ausgezogen hatte. Lev konnte spüren, wie die hohen Absätze sich in seinen Hintern bohrten, und während er betrunken mit seiner Frau schlief, erinnerte die Berührung der Schuhe ihn daran, wie verletzlich er als Mensch war, wie beweglich, wie wundervoll und wie allein.
    Lev drückte seine Zigarette aus und starrte wieder auf Mayas Bild. Achteinhalb Monate später war sie geboren worden. Wurde sie in jener berühmten Nacht gezeugt − sein Tangomädchen, sein aprikosenfarbenes Mondmädchen, sein Mädchen der Sommersterne? Marina und er hatten sich häufig den Spaß gemacht, das zu errechnen, aber beide wussten, dass sie die richtige Antwort nie herausbekommen würden.
    Lev döste in der stillen Wohnung. Sein Handy lag neben dem Bett, aber es klingelte nicht. Er erwachte und malte sich aus, wie Sophie mit Howie Preece und seiner Truppe noch angeregt trank und plauderte. Es war drei Uhr vorbei. Er fiel in einen Schlittschuhtraum. Auf dem schimmernden Eis machten seine Schlittschuhe kein Geräusch.
    Als er aufstand, war Christy da und bereitete das Frühstück. Christy sagte: »Ich dachte, du bist nicht zu Hause. Ich dachte, du bist bei Miss Sophie. Dann hab ich dich schnarchen hören.«
    Als Lev Howie Preece erwähnte, sagte Christy: »Ach, der Typ. Ich musste mir mal zusammen mit jemand eins von seinen Kunstwerken anschauen. Es war ein Modell der Doppelhelix aus alten Tennisbällen. Die Instabilität der Bälle sollte auf dieAnfälligkeit, ha-ha, der menschlichen DNA hinweisen. Ich hab die ganze Zeit überlegt, wie er wohl an all diese Bälle gekommen ist.«
    »Ich glaube, für GK und Sophie ist er sehr wichtig«, sagte Lev.
    »Okay, aber ich bezweifle, dass er das auch ganz objektiv ist. Er hat ›Konzepte‹. Man kann zusehen,

Weitere Kostenlose Bücher