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Der weite Weg nach Hause

Der weite Weg nach Hause

Titel: Der weite Weg nach Hause Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rose Tremain
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gehen mir offensichtlich aus dem Weg. Machen Sie nur. Inzwischen habe ich mich daran gewöhnt, Lev. Vielleicht haben Sie ja eine Freundin. Aber keine Sorge. Bald bin ich fort.«
    »Fort?«
    »Ja. Wollen Sie nicht wissen, wohin?«
    »Wohin gehen Sie, Lydia?«
    »Das ist eine lange Geschichte. Die kann ich nicht am Telefon erzählen. Wenn Sie mich nicht treffen wollen, werden Sie es wohl nie erfahren.«
    Lev wollte erklären, dass er immer so lange arbeite, keine Zeit habe, doch das Schweigen am anderen Ende der Leitung war so vorwurfsvoll, dass er sich schäbig vorkam. Er sagte ihr, er werde am folgenden Tag mittags um zwölf Uhr in Highgate sein.
    »Okay«, sagte sie. »Es ist schön, dass ich Sie doch noch sehen werde. Wie kommen Sie mit dem Hamlet voran?«
    Lev mochte ihr nicht verraten, dass er das Buch kaum angeschaut hatte, dass es zwischen leeren Silk-Cut-Schachteln unter seinem Etagenbett in der Belisha Road lag. Stattdessen erklärte er: »Der Hamlet ist schwierig für mich. Ich komme nur sehr langsam voran.«
    »Ich finde, Sie sollten dranbleiben, Lev. Vielleicht erkennen Sie ja etwas von sich selbst in dieser Figur. Bis morgen dann.«
    Er kaufte ihr Blumen − gelbe und violette Freesien. Obwohl es inzwischen fast Frühling war, dufteten diese Freesien nicht. Aber Lev dachte: Das macht nichts, weil Lydia das Gegenteil behaupten wird. Sie wird sagen: »O Lev, was für ein herrlicher Duft!«
    Und prompt hielt sie sich die Blumen, als er sie ihr überreichte, an die Nase. »Wunderschön«, sagte sie. »Das habe ich nicht erwartet. Nun weiß ich, dass mein erster Eindruck mich nicht getäuscht hat: Sie sind ein aufmerksamer Mann.«
    Im schlecht beleuchteten, höhlenartigen Café Rouge in Highgate bestellten sie die Hühnchen-Baguettes, die Lydia das letzte Mal hatte essen wollen. Sie bestand auch auf zwei Wodka, und als die gebracht wurden, sagte sie: »Einige der Kellner hier kommen aus unserem Land. Dieser Dünne da ist aus Yarbl.«
    »Woher wissen Sie das?«
    »Weil ich an meinem freien Tag öfter allein hierherkomme. Ich trinke heiße Schokolade. Ich plaudere mit den Kellnern − einfach, um unsere Sprache zu hören, um dem ›Müsli‹-Dasein zu entfliehen. Wie wir schicken diese Leute hier Geld nach Hause. Aber für mich ist das Leben in Nordlondon bald vorbei. Und jetzt erzähle ich Ihnen meine Neuigkeiten. Sind Sie auf einen Schock vorbereitet?«
    »Ja«, sagte Lev.
    »Also gut. Ich gehe mit Maestro Greszler fort.«
    »Fort? Ja? Wohin?«
    »Wo immer er hingeht. Zuerst nach Wien, im nächsten Monat, im April. Dann nach Australien. Danach nach New York. Dann nach Paris. Manchmal sind wir auch wieder in London, und dann rufe ich Sie an und sage hallo.«
    »Das ist ja großartig, Lydia. Ich weiß doch, wie sehr Ihnen die Arbeit für Greszler gefallen hat.«
    »Es ist mehr als großartig.«
    »Aber wieso braucht er Sie in Wien? Sie sprechen doch kein Deutsch.«
    »Doch, ein bisschen schon. Aber ...«, und nun sah Lev, wie eine plötzliche Röte ihr blasses Gesicht überzog, »... er braucht mich nicht nur fürs Übersetzen.«
    Lev trank seinen Wodka. Lydia fächelte sich mit ihrer Papierserviette Luft zu. »Ich habe ja gesagt, es ist eine lange Geschichte. Aber ich werde es kurz machen. Ich hätte schon früher erwähnen sollen, dass Maestro Greszler, als ich hier für ihn arbeitete, mich sehr oft zu küssen versuchte. Aber ich ließ ihn nie. Er hat eine Frau zu Hause in Jor. Eine Frau und drei Kinder und inzwischen auch Enkel. Ich dachte, mit einem Mann, der mir nie gehören würde, sollte ich mich nicht einlassen. Aber seit seiner Abreise bekomme ich Briefe von ihm, zwei oder drei die Woche, in denen er mir schreibt, er habe sich in mich verliebt, und er möchte, dass ich seine Geliebte werde, die ihn überallhin begleitet.«
    »Seine Geliebte?«
    »Sie werden mich jetzt bestimmt daran erinnern, dass er alt ist ...«
    »Nein, das wollte ich nicht.«
    »Und dass er an Verstopfung leidet.«
    »Nein.«
    »Aber das ist mir egal, Lev. Ich habe all meine Skrupel fahren lassen. Selbst die wegen seiner Frau. Ich bin jemand, der Liebe braucht, und ich kann Pjotr Greszler lieben, trotz alledem. Er sagt mir, er sei immer noch ein Mann. Er sagt, er schläft mit mir in seinen Träumen.«
    Sie war aufgeregt und lächelte wie ein Mädchen. Sie hielt Ausschau nach dem Kellner aus Yarbl, um noch einen Wodka zu bestellen. Sie lachte ein hektisches kleines Lachen.
    »O Lev«, sagte sie, »ich hoffe, Sie verachten mich jetzt

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