Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der weite Weg nach Hause

Der weite Weg nach Hause

Titel: Der weite Weg nach Hause Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rose Tremain
Vom Netzwerk:
doch als er gedrängt wurde zu sagen, worin der bestehe, war alles, was er vorbringen konnte, dass er ein »Gefühl« bezüglich Dicer habe. Die Handys klingelten und blinkten und piepten. Clariton wurde belehrt, Gefühle seien »unverifizierbare Bewusstseinsmomente und nichts weiter«. Er musste nachgeben und sich seine Zweifel bezüglich Dicer ausreden lassen. Es wurde abgestimmt, und Dicers Beförderung wurde beschlossen.
    Dann wurde Dicer hereingerufen. Als er von seiner Beförderung erfuhr, sah er erleichtert aus. Dann setzte er zu einer Rede an und sagte, das Großbritannien des 21. Jahrhunderts sei »ein dreckiges Land, ein Land, das auf einer Welle moralischer Unsicherheit treibt, ein Land, das einige von uns nicht mehr wieder erkennen ...« Danach sagte er, dass er, Dicer, und die Firma PithCo Widerstand gegen diese Welle zu leisten, ethische Entscheidungen zu treffen, verantwortlich in einer globalisierten Welt zu handeln hätten ...
    Bei diesen Worten und während die Köpfe des Vorstands zustimmend nickten, begann das Wippen und Zittern von Levsbenachbartem Bein von Neuem. Die beringte Hand wippte mit. Hopp, hopp, hopp, hoppe, hopp ... Hopp, hopp, hopp, hoppe, hopp ...
    Lev dachte: Das kann ich nicht ertragen, ich werde sein Bein am Boden festbinden müssen ... Und dann entglitt ihm das, was in der Szene passierte, und er begann darüber nachzugrübeln, wie sich so etwas bewerkstelligen ließe, wie man ein Bein in der Dunkelheit eines Londoner Theaters stilllegen könnte, ohne dass irgendjemand schrie, ohne dass man jemandem unnötige Schmerzen zufügte, einfach nur mit dem Ziel, der Qual durch das Nachbarbein ein Ende zu bereiten ...
    Als er sich wieder dem Stück zuwandte, trugen Deluda und Bunny Reisekleidung und wollten sich offenbar von Dicer verabschieden. Lev hatte verpasst, warum sie abreisten. Alle wirkten gequält. Er beobachtete die Gesten des Mädchens, das die Bunny spielte. Wieder spielte sie die Szene so, als befände sie sich in einem fernen, traumartigen Schlaf, vollkommen allein.
    Sie verschwand, und Deluda verschwand. Nun war Dicer allein. Er setzte sich an einen Computer. Was Dicer auf seinem Computermonitor sah, wurde auf eine große Leinwand hinter ihm übertragen. Dicer tippte und klickte. Bilder von nackten Kindern erschienen und verschwanden, waren für eine flackernde Sekunde zu sehen und wieder verschwunden. Dicer suchte immer weiter, klickte auf ein Kästchen mit der Bezeichnung »Einkaufswagen«. Und nun erschien auf der Riesenleinwand eine aufblasbare Puppe aus Gummi oder Latex oder irgendeinem fleischähnlichen Material: ein junges Mädchen ohne Brüste und mit einem offenen Rosenknospenmündchen und einem kleinen Schlitz zwischen den Beinen. Dicer starrte sehnsüchtig auf diese Mädchenpuppe. Lev spürte, wie das Publikum ebenfalls darauf starrte. Und das Bein hörte auf. Hopp, hopp, hopp, hopp, hoppe, hoppe. Ruhe.
    Auf der Leinwand erschien das Kästchen »Personalisieren Sie«. Dicer klickte es an. Ein weiteres Kästchen erschien: »Foto einscannen«. An seinem Schreibtisch wurde Dicer jetzt aufgeregt,er atmete schwer. Ein Foto von Bunnys Gesicht erschien in Großaufnahme. Sie wirkte jünger als bei ihrem Bühnenauftritt. Ihr Mund war offen. Dicer hob beide Arme, als wollte er das Gesicht seiner Tochter umarmen. Auf dem Schirm erschien das Kästchen »Personalisierung bestätigen«, und Dicer ging mit dem Pfeil darauf, klickte und schrie: »Personalisieren Sie!« Er sagte es mehrmals, mit wachsender Leidenschaft: »Personalisieren Sie! Personalisieren Sie! Personalisieren Sie! «
    Das Publikum verharrte regungslos. Lev sah zu Sophie. Ihr Gesicht war ruhig und unbewegt. Lenny glitzerte auf ihrem Arm. Sie schien völlig gebannt von dieser Personalisierungs-Sache.
    Plötzlich war ihm unerträglich heiß, als hätte ihn eine kolossale Verlegenheit gepackt. Er begann, am Ärmel seines neuen Wildlederjacketts zu zerren, es auszuziehen. Ihm war bewusst, dass er die einzige Person im Publikum war, die nicht gehorsam stillsaß, und das Ausziehen seines Jacketts erschien ihm jetzt besonders schwierig, als versuche er, sich aus einer Zwangsjacke zu befreien. Er zerrte am Ärmel, zog am Kragen, versuchte, die Aufschläge wegzuschieben, spürte, dass er mit der Schulter den Mann mit dem wippenden Bein anstieß, der ihm einen wütenden Blick zuwarf. Aber er musste die Jacke loswerden, sonst würde er ersticken. Er würde ohnmächtig werden. Er sehnte sich nach einem kühlen Fluss,

Weitere Kostenlose Bücher