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Der weite Weg nach Hause

Der weite Weg nach Hause

Titel: Der weite Weg nach Hause Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rose Tremain
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Gastronomie, wenn es geht.«
    »Wieso denn? Das ist doch eine einzige Albtraumhierarchie. Genau wie bei uns damals, in der Zeit von Grundbesitz und Leibeigenschaft. Wie wäre es, wenn du dich in den Zug setzt und hierher kommst? Ich rede mit Midge. Im Wohnwagen der Mings ist noch Platz. Und wir sind an der frischen Luft. Auf dem Land, wo es grün ist. Und es gibt einen Hofhund, der Whisky heißt. Das ist ein Köter, aber ein netter. Manchmal kommt er mit uns raus und läuft die ganze Zeit hinter dem Wagen her.«
    »Wie viel verdienst du, Vitas?«
    »Sehr wenig. Aber wie gesagt, keine Miete. Und wir kaufen unser Essen billig im Co-op. Und Midge gibt uns Kartoffeln umsonst.«
    »Kartoffeln umsonst? Das ist gut.«
    »Genau. Besser als das stinkende London, das sag ich dir. Du solltest kommen.«
    »Okay. Ich denke drüber nach.«
    Langsam wanderte Lev nach Hause, vorbei an den verlassenen Tennisplätzen und den Rosenbeeten, die, ordentlich gejätet, auf den Tag warteten, wenn die Knospen sich öffnen würden. Er merkte, wie er sich im Kopf ein Bild von Vitas’ Leben machte, der mitten auf einem Feld lebte, sich Kartoffeln auf einer Platte mit nur einer Flamme briet und auf Reihen mit Salatköpfen blickte, die in der Dämmerung fast durchscheinend wirkten.
    Zu Hause in der Belisha Road machte Lev eine Dose Bohnen warm und aß sie gierig mit einem Löffel, dann legte er sich in seinem Zimmer aufs Bett, stopfte sich die verblichenen Giraffenkissen unter den Kopf und begann, Hamlet zu lesen.
    Eigentlich hatte er keine Lust, sich damit herumzuschlagen, die Kompliziertheit zu ertragen. Die Lektüre war mehr eine Wiedergutmachung dafür, wie er Lydia behandelt hatte.
    Er schlug das Taschenbuch auf. Schaute sich weder Lydias Widmung noch die gelehrten Einführungen an. Blätterte rasch vor zum 1. Akt, 1. Szene.
    Wer da?
    Schön. Gut, er verstand die erste Zeile. Er fand, das war eine aufregende Art, ein Stück zu beginnen. Wer da? Die Anmerkungen hinten im Buch erklärten Lev, dass die Personen, Bernardo und die Übrigen, Soldaten waren, die auf einem Posten Wache hielten, einem Ort, wo Kanonen standen. Also okay, das war die Äußerung eines nervösen Wachpostens. Aber war es nicht ebenfalls die Frage, die auch er sich ständig stellte: Wer ist da in meinem Leben? Für mich oder gegen mich. Wer ist mir noch geblieben? Wer wird noch kommen?
    Er kehrte zu den Soldaten zurück. Konnte sie sich nicht recht vorstellen, vor so langer Zeit, in Dänemark. Dachte nur daran, wie er in Baryn und anderen Städten immer die Gesichtervon Angehörigen der Armee angestarrt hatte. Stets schauten sie direkt an einem vorbei, hielten die Augen in die Ferne gerichtet, schienen irgendetwas Adrettes, Ordentliches zu sehen, worin man selbst nicht vorkam. Er hatte sie sowohl gefürchtet als auch bemitleidet. Ihre Mützen waren steif und rund wie Schokoladenschachteln. Sie drückten ihre alten Kalaschnikows an die Brust.
    ’ s ist bitter kalt
    Und mir ist schlimm zumut.
    Auch das gefiel Lev. Denn genauso kamen einem die Soldaten vor, wenn man an ihnen vorüberging, wenn man aus dem Blickfeld ihrer ausdruckslosen Gesichter verschwand: Das dachte man nachträglich, dass sie auf ihrem einsamen Wachposten sicherlich froren, wenn sie so trostlos auf und ab schritten. Und als er einmal mit Rudi an zwei jungen Wehrpflichtigen vorbeikam, die irgendein ministerielles Blockhaus in Glic bewachten, hatte Rudi da nicht gesagt: »Sie sehen nach großem Herzeleid aus. Als hätte man sie zu früh der Mutterbrust entwöhnt.«
    Der Geist kommt.
    Lev las diese Regieanweisung, die auf der rechten Seite wartete, und übersprang einiges, was er nicht verstand, um zu dieser Stelle zu gelangen.
    Es würde also eine Geschichte über die Toten sein. Wahrscheinlich hatte Lydia das Stück deshalb für ihn als Weihnachtsgeschenk ausgesucht: weil sie ihn besser kannte, als er je zugegeben hätte, weil sie gemerkt hatte, dass ihn immer noch die Gespenster heimsuchten, sein Vater, sein altes Leben in der Mühle, Marina.
    Und jetzt auch noch andere Dinge: die Küche im GK Ashe, die schwarzen Bäume vorm Fenster von Sophies Wohnung, dasauflodernde Glück, das seinen Weg beschienen hatte und dann verloschen war ...
    Aber lieber sollte er weiterlesen, versuchen, in Hamlet einzutauchen, anstatt über all das nachzudenken. Lev watete durch gesprochene Dialoge, deren Bedeutung ebenso plötzlich verschwand wie das kurz auflodernde Glück.
    Es war am Reden, als der Hahn just krähte.
    Lev

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