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Der weite Weg nach Hause

Der weite Weg nach Hause

Titel: Der weite Weg nach Hause Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rose Tremain
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schloss die Augen und ließ das Buch fallen. Es war so absurd schwierig. Und die Schwierigkeit war von anderer Beschaffenheit als die meisten Alltagsdinge. Aber Lev spürte Lydias kritische Augen auf sich ruhen, und ihr Blick sagte: Enttäusch mich nicht, tu nicht, was du immer tust, leg mich nicht weg. Also versuchte er, ihr zu gehorchen. Nahm das Buch wieder hoch, kämpfte sich weiter ...
    Ein König und eine Königin kamen mit ihrem Gefolge angerauscht, aber was für eine Verbindung hatten sie zu dem Geist? Was war eine »hohe Witwe«? Wer waren der junge Fortinbras und der alte Norweg? Was waren »des Kummers Kleid und Zier«? Nach hinten zu den Anmerkungen und wieder zurück. Dann blätterte er weiter, hielt sich nicht beim alten Norweg auf, sondern wollte endlich zu Hamlet persönlich, als dächte er: Wenn er erst einmal allein ist und direkt zu uns spricht, wird vielleicht alles klar werden. Er starrte auf die Worte Alle außer Hamlet ab .
    Lev zündete sich eine Zigarette an. Er sog den Rauch tief ein und stellte sich Hamlet jetzt allein auf der Bühne vor, wie er gleich aussprechen würde, was er auf dem Herzen hatte. Er würde jung sein. Wahrscheinlich um die dreißig. Jung und schlank, wie die Männer, die im Winter auf dem Baryner Holzhof erschienen und Arbeit suchten. Keine Prinzen von Dänemark: Jungen, die nie Arbeit kennengelernt hatten. Meist standen sie schweigend im schwachen Licht herum und sahen derkreischenden Säge zu, die Funken und orangefarbenen Staub sprühte, während sie sich durch die Kiefern fraß. Sie malten sich wohl aus, wie es wäre, wenn sie diese Welt beträten, in der Männer das ganze Jahr hindurch schufteten − bei fallendem Schnee, unter Bogenlampen an schwarzen Nachmittagen, bei strömendem Regen und bitterer Kälte, an den ersten, von Vogelgesang erfüllten Frühlingstagen − und Woche für Woche Geld nach Hause brachten. Lev sah sie nur sehr ungern dort, schaute ihnen ungern in die Gesichter. Fürchtete, darin sein eigenes Gesicht zu entdecken.
    ... O Gott! O Gott!
    Wie ekel, schal und flach und unersprießlich
    Scheint mir das ganze Treiben dieser Welt!
    Das war besser. Er konnte mehr Wörter verstehen.
    Himmel und Erde!
    Muss ich gedenken?
    Wessen gedenken? Zurück und vor und wieder zurück zu den Anmerkungen, vor seinem inneren Auge stand eine Säge, die sich kreischend durch die harte Rinde von Wörtern zu fressen versuchte.
    Ein kurzer Mond ...
... In einem Mond ...
War sie vermählt!
    Darum ging es also. Um den Verrat einer Frau! Wie typisch, dachte Lev. Denn das, was Frauen tun, ist es, was uns umbringt. Auf uns selbst gestellt, überleben wir Männer, selbst in der kalten Dunkelheit des Holzhofs. Wir trampeln mit den Füßen im Schnee. Wir trinken Tee aus alten Thermosflaschen. Erzählenuns manchmal einen Witz. Unsere Schultern schmerzen wie die Schultern eines Ochsen unter dem ewigen Joch. Aber wir schütteln einander die Hände, planen Angelausflüge, betrinken uns gemeinsam, machen weiter ...
    Es klingelte an der Haustür, aber Lev rührte sich nicht. Es war nach Mitternacht.
    ... meinem Ohm vermählt,
    Dem Bruder meines Vaters, doch ihm ähnlich,
    Wie ich dem Herkules!
    Es klingelte und klingelte. Müde kletterte Lev aus seinem Etagenbett und schleppte sich zur Tür. Er nahm den Hörer der Gegensprechanlage.
    »Ich bin’s, Sophie. Lass mich rein, Lev.«
    Er sagte nichts, tat nichts, hielt einfach den Hörer an sein Ohr, als warte er auf weitere Anweisungen.
    »Lev. Bitte lass mich raufkommen.«
    Schon war es da, jenes Gefühl, das nach ihm griff, wenn er jenen unwiderstehlichen Knacks in ihrer Stimme hörte. Er hätte sie am liebsten weggeschickt, sich abgeschottet gegen alles, was ihr gehörte, was sie umgab − ihre Promi-Freunde mit ihren haarsträubenden Produktionen, die Verachtung, die sie ihm gegenüber zeigten −, aber er war einfach nicht in der Lage, sie fortzuschicken, nicht, wenn sie mit dieser sexy Stimme zu ihm sprach.
    Er drückte den Türöffner. Hörte ihre Schritte auf der Treppe. Öffnete die Wohnungstür und wich in sein Zimmer zurück, als wäre er dort, wo sie nie zu schlafen geruht hatte, sicher vor ihr. Er suchte nach einer Zigarette.
    Sie stand in der Tür und schaute ihn an. Ihre Wangen waren rosig von der Nachtluft, ihre Haare vom Fahrradhelm plattgedrückt. Aber er konnte die Küche an ihr riechen, die wunderschöne Stahlküche, aus der er verstoßen worden war. Er zündetesich die Zigarette an, hob die Hamlet -Ausgabe auf, die

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