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Der weite Weg nach Hause

Der weite Weg nach Hause

Titel: Der weite Weg nach Hause Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rose Tremain
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gerne, wie seine eigene Sprache von Stimme zu Stimme getragen wurde. Es erinnerte ihn daran, wie er als Junge in den Wäldern hinter Auror Kaninchen und Tauben gejagt hatte. Wenn er den Dieselgestank einatmete, schoss ihm manchmal die Baryner Sägemühle durch den Kopf, und fast glaubte er, er müsste nur hochschauen, um seine alten Freunde hinten am Waldrand stehen zu sehen: geisterhafte Gesichter unter steifen Mützen.
    Meistens schwieg Lev und hörte zu, worüber Vitas und die anderen redeten: über Mädchen, die ihnen an den Supermarktkassen oder im Longmire Arms gefielen, über Motorräder, die sie schrecklich gern kaufen und vorführen würden, über ihre Lieblings-Cornflakes, die Entdeckung von Instantnudelgerichten, das Geld, das sie sparten, die Billardregeln in den Kneipen ...
    Eines Nachmittags, als sie in der Ecke eines Felds Pause machten − sie aßen weiche Brötchen mit Corned Beef, Pickles und Schmelzkäse und spülten alles mit Pepsi herunter −, erzählte Lev die alte Geschichte vom Tschewi-Kauf und wie sie Wodka über die Windschutzscheibe geschüttet hatten, als sie bei Frost nach Hause fuhren. Und er merkte, wie fasziniert sie waren, genau wie Lydias Freunde in Muswell Hill. Alle sahen ihn gebannt an: Vitas und Jacek und die anderen jungen Männerseines Landes, Oskar, Pavel und Karl. Nur die Mings machten verständnislose Gesichter. Wenn er seine Sprache benutzte, verstanden Sonny und Jimmy kein einziges Wort.
    »Ich würde gern einen amerikanischen Wagen fahren«, sagte Vitas.
    »Ich würde gern Rudi kennenlernen«, sagte Jacek.
    Die anderen nickten zustimmend. Sie würden gern Rudi kennenlernen und ein Auto haben. Und Lev dachte, ja, Rudi war genau so wie in dieser Geschichte − und mehr. Er war eine Naturgewalt. Er war ein Blitzstrahl. Er war ein Feuer, das nie erlosch.
    Lev rief ihn häufig an. Er hatte das Gefühl, Rudi sei einmal mehr sein einziger Freund auf dieser Welt. Er wusste, dass sein Geld − Geld, das er eigentlich Ina hätte schicken sollen, Geld, das seine Schulden bei Lydia hätte begleichen sollen − in Mobilfunkrechnungen versickerte, aber seine Einsamkeit war so groß, dass er Rudi irgendwie in der Nähe wissen musste, um nicht verrückt zu werden.
    Eines Abends sagte Rudi zu ihm: »Ich habe übrigens auch Sorgen, Lev. Der Tschewi macht mir wieder Ärger, Scheißding.«
    »Ja?«
    »Tja, pass auf. Ich bin also auf der 719 Richtung Piratyn unterwegs, irgendwo mitten in der Pampa, und fahr diese schmalzgesichtige Oma, die zwei lebende Hennen mithat in einem Käfig hinten auf dem Rücksitz. Ich denk noch bei mir: Hoffentlich hat sie auch Geld und bezahlt mich nicht in Scheiß -Eiern . Und dann seh ich Qualm aus der Motorhaube kommen. Qualm! Er quillt in dicken Wolken raus. Ich komm mir vor wie in einem alten kommunistischen Horrorfilm, mit einer Lokomotive in der Hauptrolle.«
    Lev konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. »Und, was hast du gemacht?«, fragte er.
    »Tja, was konnte ich schon machen? Ich bin an den Randgefahren. Hab den Motor abgestellt. Omi lehnt sich in die Polster, als wäre das alles völlig normal. Schließt nur die Augen. Hennen auch im Tiefschlaf − oder tot. Also steig ich aus, klapp die Motorhaube auf. Alles da drin kocht . Ungelogen, Lev. Ich kann es blubbern hören, als ob Lora Waschlappen kochen würde.
    Alles viel zu heiß zum Anfassen. Also weiß ich, dass wir festsitzen. Bleibt mir nichts anderes übrig, als da zu warten, bis es abkühlt, dann nachfüllen. Aber wir sind irgendwo auf der 719, nichts zu sehen außer Felsen und Gestrüpp und einer alten verdorrten Eiche. Wahnsinnstemperatur: dreißig Grad. Und plötzlich denke ich: Es sind immer noch 13 oder 14 Kilometer bis Piratyn, und ich hab kein Wasser, um das beschissene Kühlsystem aufzufüllen!«
    »Gut. Aber du lebst ja noch und kannst es mir erzählen.«
    »Genau. Aber es wurde dann richtig surreal. Ich warte also und entschuldige mich. Fühl mich als totaler Versager. Ich fühl mich schlechter als du, Kamerad. Omi hievt ihren Hintern aus dem Wagen, hebt ihre zusammengeflickten alten Röcke, erklärt, sie muss dem Ruf der Natur folgen. Bingo, denk ich: Flüssigkeit! Und ich will sie schon fragen: ›Wären Sie so nett, Ihre Körperflüssigkeit für mein armes, krankes Auto zu sammeln?‹ Aber dann fällt mir ein, Scheiße, nein, ich habe ja gar kein Gefäß dafür. Nichts, um sie aufzufangen.«
    Lev hörte, wie Rudi in Lachen ausbrach, und lachend redete er weiter. »Und jetzt stell

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