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Der weite Weg nach Hause

Der weite Weg nach Hause

Titel: Der weite Weg nach Hause Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rose Tremain
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dir vor, was ich mache, Lev. Während Omi ab in die Büsche ist, wickele ich mir eine Rotzfahne um die Hand, dreh’ die Verschlusskappe vom Kühler ab, beug mich rüber, verbrüh mir fast die Eier dabei und piss in den verdammten Tank. Allmächtiger!«
    Lev fiel in das Lachen ein. Spürte es förmlich aufwallen, von wo auch immer es sich versteckt gehalten hatte. Rudi hustete, beruhigte sich wieder und sagte: »Na ja, wir sind dann angekommen. Hühnerscheiße überall auf meinen Polstern, und weißder Himmel, was Harnsäure in einem Motor anrichtet, aber wir haben es geschafft. Ich war noch nie im Leben so froh über den Anblick von diesem Piratyn-Kaff. Hab Kühlflüssigkeit bekommen, aber nur mit Bestechung. Ich schwör dir, noch der letzte Einwohner von Piratyn ist ein waschechter Schwarzhändler . Die Scheißtypen aus der Werkstatt haben den Tschewi angeguckt, als wär er eine scharfgemachte Terroristenbombe. Hat mich fast den ganzen Fahrpreis gekostet. Also, wieder die Arbeit von einem Nachmittag hin, und der Motor riecht immer noch nach Pisse, und das Kühlsystem leckt wie verrückt und ist immer noch nicht repariert und kann auch erst repariert werden, wenn ich einen anderen Motor wegen einer neuen Pumpe ausschlachten kann. Ich sag dir, Lev, manchmal ist dieses Land ...«
    Er brach ab. Lev hörte, wie der verkrüppelte Kuckuck kreischend aus seinem Häuschen in der hölzernen Uhr kam. »Na, das brauch ich dir nicht zu erzählen«, seufzte Rudi, »das weißt du doch selber nur zu genau. Deshalb erntest du ja Spargel in den Matschebenen Englands.«
    Die Nachmittage zogen sich hin. An schönen Tagen arbeiteten die Männer neun, zehn Stunden. Arbeiteten, bis das Licht langsam schwand, bis die Krähen in den hohen Bäumen zu rumoren begannen, bis das Nobelfräulein in seinem grünen Gewand kaum noch zu erkennen war. Dann fielen sie in den Landrover, stumm, lahm, hungrig, und wurden zurück zu den Wohnwagen gebracht. Wechselten sich in der heißen Dusche ab, einer großen, leeren Kabine, die Midge neben dem Kühlraum aufgestellt hatte. Machten das billigste Dosenzeug, das sie finden konnten, warm − Ravioli, weiße Bohnen in Tomatensoße, Currysuppe − und löffelten es, zusammen mit dick geschnittenem Brot, wie verhungerte Kinder. Stillten ihren Zuckerbedarf mit Pfirsichen und Mandarinen aus der Dose und Marsriegeln. Schlenderten, wenn die Nacht schön war, nach draußen zum Rauchen und starrten auf die Sterne, die klar und hell über dem stillen Land standen.
    Gegen neun Uhr brachen Vitas und seine Freunde, mit den Mings im Schlepptau, ausnahmslos zu ihrem 400-Meter-Marsch in die Kneipe auf, und Lev war allein.
    Er wanderte in der herrlichen Stille bis dorthin, wo die weißen Gänse auf ihrem Feld lagen. Er lehnte sich ans Gatter, rauchte und versuchte, seinen Kopf von allem zu leeren − bis auf das hier: die Mai-Dunkelheit, das geborgte Mondlicht, das Gefühl, lebendig zu sein. Doch häufig schossen ihm, wie Bilder aus einem alten Film, Szenen aus dem GK Ashe durch den Kopf: GK, der die Kellner anbrüllte, die Schwester aus Niger, die schwere Bratpfannen auf die stählerne Abtropffläche knallte, wobei jeder Aufprall einzeln nachhallte. Dann ließ der Lärm nach, und da war Sophie ... Sie wählte ein Messer, filettierte mit geschickten Schnitten einen Wolfsbarsch, und es wirkte so spielerisch, als schlitze sie einen Briefumschlag auf, so leicht, als fahre sie mit einem Skalpell durch eine Ader ...
    Er verließ dann das Gatter, überließ die Gänse ihrer Furcht vor Füchsen und anderen Jägern der Nacht. Er setzte seine Wanderung fort, als versuchte er zu entkommen, Sophies Messer zu entfliehen, doch er konnte nirgendwo hin, außer in noch tiefere Dunkelheit, dorthin, wo die Pappeln seufzten wie das Meer. Wenn Lev umkehrte und langsam zum Wohnwagen zurückwanderte, schaute er manchmal hinüber zu Midges Gehöft. Um Sophie aus seinem Kopf zu vertreiben, machte er sich Gedanken über Midge, den einsamen Herrscher über sein Obst- und Gemüsekönigreich, zu fett für seine Kleider, zärtlich mit seinem Hund; über »Dickbauch«, der sein Leben mit dem Anheuern von Fremden verbrachte. Hatte er einmal eine Frau gehabt? Hatte er jemals Tango getanzt? Gab es irgendjemanden auf der Welt, den die Antwort auf diese Fragen interessierte?
    Danach saß Lev meist am Tisch, auf seinem zum Stuhl zusammengeklappten Bett, und las Hamlet unter der einzigen Glühbirne, die an einem über die Wohnwagendecke geführten schwarzen

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