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Der weite Weg nach Hause

Der weite Weg nach Hause

Titel: Der weite Weg nach Hause Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rose Tremain
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Kabel hing. Außensteckdosen an der Wand desKühlraums versorgten die drei Wohnwagen mit Strom, die Kabel waren mit braunem Klebeband gebündelt und durch angekippte Fenster geschoben. Bei Wind schwang die Birne über dem Tisch hin und her und warf Schatten wie Geistertücher.
    Engel und Boten Gottes, steht uns bei! −
    Sei du ein Geist des Segens, sei ein Kobold ...
    Lev hatte das Gesicht tief über die Seite gebeugt. Es war so schwer, er verfluchte Lydia laut, weil sie zu viel von ihm erwartete. Aber er hatte nichts anderes zum Lesen dabei, deshalb quälte er sich weiter, und aus irgendeinem Grund kam es ihm so vor, als mache er jedes Mal, wenn der Geist erschien, einen Verständnissprung nach vorn.
    Ich bin deines Vaters Geist ...
    Er las, bis ihm die Augen zufielen, breitete dann das Bettzeug auf seiner kratzigen Matratze aus und legte sich hin. Gewöhnlich schlief er schon, wenn die Mings aus der Kneipe zurückkehrten, wachte aber von ihrem Gelächter auf, sah das Licht durch den Vorhang, der ihren Schlafbereich vom übrigen Wohnwagen trennte. Manchmal stolperte Jimmy (oder Sonny) noch einmal hinaus, immer noch von Lachen geschüttelt ... ha-ha-ha-ha-ha-ha ... und sah Lev, der aufrecht im Bett saß und ihn beobachtete.
    »Sorry, Rev. Vergaß pissen.«
    Noch mehr nicht zu bremsendes Gelächter vom jeweils Zurückgelassenen. Ha-ha-ha-ha-ha-ha ! Dann einen Moment lang reumütiges Schweigen, ein dunkler Kopf, der durch den Vorhang guckte. »Sorry, Rev. Wir wachen dich?«
    »Das ist okay.«
    »Wir trinken Menge Bier!«
    »War es lustig?«
    »Was sagst du, Rev?«
    »Gefällt es euch in der Kneipe?«
    »Ja, ja. Schön-Scheiß. Sonny Tischbirrjard gewinnt. Nacht, Rev.«
    Er sank wieder in Schlaf, erwachte aber erneut, hörte sie reden, dann in ihrem Schlaf seufzen, stöhnen und wimmern. Es kam ihm so vor, als schliefen sie nur unruhig und kurz, aber morgens begrüßten sie ihn stets fröhlich: »Morgen, Rev. Wie geht heute?«
    Wenn es regnete, erschienen sie in ihren gelben Öljacken, den Reißverschluss bis unters Kinn hochgezogen und den Südwester schon über dem dichten schwarzen Haar. Im Landrover saßen sie eng aneinandergelehnt. Sie erinnerten Lev an zwei gehorsame Brüder in seiner Schule, die, fast gleich alt, überall gemeinsam hingingen und es nicht ertragen konnten, getrennt zu sein. Rudi hatte ihnen den Spitznamen »der KGB« gegeben. Er erklärte Lev, sie hätten ein Familiengeheimnis, dessen Preisgabe entsetzlich wäre, weshalb sie einander Tag und Nacht überwachen müssten. Mit Vitas und den anderen sprachen die Mings kaum. Nur manchmal, um über Dickbauch zu lachen. Oder sie rieben, wenn sie mit Kühlraumarbeiten an der Reihe waren, ihre behandschuhten Hände und sagten: »Groß kalt, dies Eiszimmer. Kalt wie China-Winter.«
    Es handelte sich um einen alten Stall mit durchhängendem Dach, der auf acht Grad Celsius heruntergekühlt war. Die Erntehelfer wechselten sich darin in zweistündigen Abendschichten ab, wuschen, wogen und packten den Spargel in Tüten und dann erneut in Kisten zur Auslieferung an die Läden und Supermärkte der Umgebung. Dabei trugen sie Öljacken, Gummihandschuhe und Stiefel wie die Besatzung eines Trawlers. Sie arbeiteten jeweils zu zweit, unter schummrigen Industrie-Neonröhren, und unterhielten sich, um sich warm zu halten.
    Als Lev einmal im Kühlraum mit Vitas zusammenarbeitete, der sich ein akkurates kleines Dreiecksbärtchen unter der Unterlippewachsen ließ, fragte er ihn: »Bleibst du den ganzen Sommer hier bei Midge?«
    »Ja«, sagte Vitas. »Demnächst sind die Polyestertunnel mit Tomaten dran. Dann die Bohnen und das Obst. Fahr im August mit einem Koffer voll Geld nach Hause. Fang im September mit meiner Mechanikerausbildung in Jor an.«
    »Möchtest du Mechaniker werden, Vitas?«
    Vitas trug während der Arbeit mittlerweile ein wollenes Tuch, das er sich wie einen Verband um den Kopf gewickelt hatte. »Ich möchte überhaupt etwas sein«, sagte er.
    Lev schwieg. Er betrachtete die Schrift auf den Spargeltüten: Produkt der Longmire Farm, Suffolk. Nur das Beste! Dachte, ja, das war es letztendlich, was einen über die Jahre hin antrieb, trotz Tragödien und Verlusten: die Vorstellung, dass man sich einen Namen machen konnte, dass man in den stetig sich ansammelnden Wochen und Monaten irgendwie zu einer Person werden würde, die andere bewundern konnten. Nur das Beste.
    »Und was wirst du machen?«, fragte Vitas.
    Lev fuhr mit seiner Arbeit fort. Er dachte an all die

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