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Der weite Weg nach Hause

Der weite Weg nach Hause

Titel: Der weite Weg nach Hause Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rose Tremain
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wahrscheinlich die ganze Zeit iPods und BlackBerrys und Gott weiß was und fänden es nicht der Mühe wert, ihn deshalb zu misshandeln?
    Peng! Noch eine Tüte. Jetzt gegen seine Schulter, und die Tüte zerplatzte beim Aufprall. Die Tüten waren schwer und scharfkantig von den leeren Dosen und Flaschen, die jetzt scheppernd auf den Gehsteig fielen. Dies hier würde kein Spiel mehr sein, wenn eine seinen Kopf traf.
    Wut flammte in ihm hoch, als er hörte, wie die Jungen wieder den Hügel hinunter und auf ihn zurasten. Denn wie rechtfertigten solche Kinder − welcher Hautfarbe auch immer − eigentlich ihre Überfälle auf Fremde? Was wussten sie, zum Beispiel, von Benachteiligung und Kummer? Arbeiteten ihre Väter täglich neun Stunden für einen Hungerlohn in einer elenden Sägemühle? Waren ihre Mütter im Alter von 36 Jahren an Leukämie gestorben? War ihr Zuhause vom Untergang bedroht? Er drehte sich wieder um, aber zu spät. Sie überrannten ihn, er verlor das Gleichgewicht, taumelte und ging zu Boden, und nun waren sie über ihm, wie Geier, drückten sein Gesicht in den Rinnstein, zerrten an seinen Kleidern, wühlten das Handy heraus, zerrissen sein Hemd ...
    Er versuchte zu treten, gegen ihre Beine, ihre mageren Hintern, ihre Füße in stinkenden Turnschuhen, vergebens. Schrie sie in seiner Sprache an, so wie Rudi gebrüllt hätte, fühlte, wieihre plündernden Hände beim Klang der unbekannten Wörter für einen kurzen Moment innehielten, dann prasselte eine Schimpfwörterkanonade in sein Ohr: »Verdammtes Ausländer-Arschloch!«
    »Scheißimmigrantenabschaum!«
    Noch ein Schlag in sein Gesicht − genau wie der Schlag eines kleinen Schultyrannen, mit der flachen Hand, mies, entwürdigend, ätzend unverschämt, und nun wurde ihm alles entrissen: Schlüssel, Brieftasche, Kleingeld, Zigaretten, alles.
    Er trat noch einmal zu, sein Fuß stieß mit etwas zusammen, eine Hand schlug gegen seinen Kopf, das Gefluche fing wieder an: »Scheißasylant!«
    »Terrorist!«
    »Arsch!«
    Dann schmeckte er Staub im Mund, hörte das Scharren der gummibesohlten Turnschuhe, als die Jungen aufstanden und in der Dunkelheit verschwanden.
    Er wartete, bis die Geräusche schwächer wurden, stand auf. Er war nicht verletzt, aber sein Gesicht brannte, und seine Knie zitterten. Er blickte die Straße hinauf und hinunter, sah keinen Menschen. Das Licht im Wohnwagen war erloschen.
    Er torkelte zum Friedhofsgitter und lehnte sich dagegen. Suchte in allen Taschen, ob sie ihm etwas gelassen hatten, hoffte, wenigstens seine Zigaretten zu finden. Aber da war nichts in den Taschen. Nichts . Kein Schlüssel für die Belisha Road − und er wusste, dass Christy bei Jasmina in Palmers Green war. Kein Geld für einen Nachtbus nach irgendwohin ...
    Er versuchte, den Hügel wieder hinaufzugehen, aber sein Herz klopfte so heftig, als wollte es gleich stillstehen. Er wurde langsamer, versuchte sich aufrecht zu halten, seinen Zorn zu besänftigen, versuchte, sich klarzumachen, dass diese kleinen englischen Ganoven auch nicht schlimmer waren als die miesen minderjährigen Kriminellen von Baryn, die am Markt rumhingen und Kleingeld stahlen, auf der heruntergekommenen altenFreilufteisbahn Schlittschuhe klauten, sie dann auf einem Trödelmarkt wieder vertickten und, wo immer sie konnten, Drogen dafür kauften. Es waren einfach arme Kinder, das war alles. Arme Kinder aus armen Elternhäusern, randvoll mit Vorurteilen und Elend. Arme Kinder, deren Eltern kaputt oder zugedröhnt oder voller Wut − oder all das gleichzeitig waren. Arme Kinder, die dabei waren, sich ihre Zukunft zu versauen.
    Er schaffte die letzten paar Hundert Meter bis zu Pannos Lokal, sah, dass noch Licht in der Küche war, hämmerte gegen die Tür.
    Panno erschien, sein melancholisches Gesicht alarmiert.
    Panno willigte ein, Lev einen Vorschuss auf den nächsten Wochenlohn zu zahlen. Er fand, Lev habe Glück gehabt, relativ gesehen: Eine Flasche hätte ihm ein Loch in den Schädel schlagen können. Und Lev wusste, dass er wirklich Glück gehabt hatte, trotzdem fühlte er sich noch sehr zittrig. Etwas in ihm war zerbrochen.
    Er besorgte sich ein neues Handy. Als er es in der Hand hielt, wusste er nicht mehr, wie er so lange ohne Mobiltelefon hatte existieren können. Dann, wenige Minuten später, klingelte es, und es war GK.
    »Hab die Vorlaufkosten für dich«, sagte er. »Komm morgen um halb drei.«
    Auf dem üblichen Tisch, wo die Luft noch schwach nach den Crostini der vergangenen Nacht

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