Der weite Weg nach Hause
Wohnungen in Baryn können doch ganz nett sein. Es gibt da Zentralheizung. Ich habe gehört, dass einige direkt am Fluss liegen, und wir werden versuchen, so eine zu bekommen.«
»Es ist mir egal, wo die liegen. Ich bin siebzig Jahre alt. Ich habe vor, in meinem Dorf zu sterben.«
»Mama, denk an Maya und wie sehr sie dich braucht.«
»Nein. Denk du an Maya. Sie ist dein Kind. Komm nach Hause und sei ihr ein Vater. Aber mich sollen alle in Frieden lassen.«
»Mama, bitte ...«
»Ich bin müde, Lev. Zu müde, um dir zuzuhören. Lass mich einfach in Ruhe.«
Sie konnte ihn fertigmachen, wenn sie so redete. Das wusste sie nur zu gut. Aber er fragte sich: Wieso wollte sie ihn denn fertigmachen? Wieso war sie so wütend auf ihn?
Weil er ein Versager war. Das war das Wort, mit dem Lev seine Frage beantwortete, als er in die Northern Line nach Tufnell Park stieg. Er stellte es sich als ein U-Bahn-Stationsschild vor, mit Graffiti beschmiert an einer rußigen Wand: eine für alle sichtbare Feststellung.
Am nächsten Morgen tat er das, was er immer tat, wenn er an einem toten Punkt war: Er rief Lydia auf dem Handy an.
Lydia war in New York, im Ritz-Carlton-Hotel, und es war fünf Uhr morgens. Maestro Greszler lag schlafend neben ihr.
»Es tut mir leid, Lydia«, sagte Lev, »ich wusste nicht, dass Sie in den Staaten sind. Ich dachte, Sie wären irgendwo, wo jetzt Tag ist.«
Er hörte sie aus dem Zimmer tapsen und ein weiteres dieser hallenden, lichterfüllten Badezimmer betreten, die ihr Herz so erfreuten. Sie sagte, er solle warten, während sie den Gratis-Hotelfrotteemantel über ihren seidenen Schlafanzug ziehe.
Er hatte mit der Geschichte vom Überfall in der Swains Lane anfangen wollen und wie sehr er ihn durcheinandergebracht habe, aber jetzt entschied er sich dagegen. Er wusste, dass Lydia ihn darauf hinweisen würde, dass diese Art Straßenräuberei doch eigentlich nichts Besonderes sei, solche Dinge würden jeden Tag passieren, in jeder Stadt, überall auf der Welt.
»Also«, sagte sie, »was wollten Sie, Lev? Ich bin sehr müde.«
Er fing von dem an, was ihm am meisten auf der Seele lag: von den Selbstmorddrohungen seiner Mutter. Während er redete, hörte er etwas klirren, und merkte, dass Lydia abgelenkt war, wahrscheinlich von dem, was da so klirrte.
»Was ist das für ein Geräusch, Lydia?«
»Nichts. Ich löse mir nur gerade ein paar Alka-Seltzer auf. Reden Sie weiter.«
»Sind Sie krank?«
»Nein. Aber in Amerika sind die Portionen im Restaurant sehr groß. Ich hatte zum Abendessen eine schlichte gegrillte Rotzunge bestellt − mein Lieblingsgericht, aber es kam ein Riesenfisch, und ich hatte schon als Vorspeise ein paar Krebsschwänze mit Tomatencreme gegessen, und das war nach dem Salat, den sie immer bringen, sobald man Platz genommen hat, zusammen mit Ciabatta und Olivenöl, und natürlich hatte Pjotr wunderbaren Sancerre zu meiner Rotzunge bestellt, und ich habeziemlich viel davon getrunken. Lassen Sie mich kurz die Alka-Seltzer nehmen, und dann können Sie weiter von Ihrer Mutter erzählen. Aber ich habe Ihnen ja schon gesagt, Lev, diese Frau praktiziert emotionale Erpressung. Sie sollten sich dagegen wehren.«
Er hörte Lydia trinken und aufstoßen.
»Okay«, sagte er, als der Rülpsanfall vorbei schien. »Eigentlich habe ich nicht angerufen, um über Ina zu sprechen.«
»Und warum dann?«
Lydia war ihm noch nie so müde und vorwurfsvoll vorgekommen. Er holte tief Luft, verfluchte sich dafür, dass er sie mitten in der Nacht gestört hatte. »Ich habe angerufen«, sagte er, »um Ihnen zu erzählen, dass ich ein Projekt für die Zukunft habe.«
»Ja? Tatsächlich? Was für ein Projekt?«
»Also ... ich finde, es ist ein ziemlich gutes Projekt. Aber es funktioniert nicht ohne Geld.«
»Nichts funktioniert ohne Geld, Lev. Ich dachte, das wüssten Sie inzwischen.«
»Doch, das weiß ich. Deshalb rufe ich Sie ja an.«
»Okay. Wie sieht dieses ›Projekt‹ also aus? Das sollten Sie mir schon erzählen.«
Er hörte sie gähnen, und das ließ ihn wieder verstummen. Er sah das ganze Restaurantprojekt jetzt so, wie sie es sehen würde − als eine absurde, anmaßende Spintisiererei. Doch er machte tapfer weiter, in der Hoffnung, ihr Herz zu erweichen. »Wissen Sie noch«, sagte er mit ruhiger und ernster Stimme, »wie Sie mir im Bus von Elgar und dem Musikgeschäft erzählten?«
»Was? Wovon reden Sie, Lev?«
»Wissen Sie nicht mehr? Sie haben mir von Elgar erzählt ...«
»Nein,
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