Der weite Weg nach Hause
Rhabarberstreuselkuchen.«
»Nein, vielen Dank, mein Lieber. Ich bin nicht hungrig. Ich ernähre mich jetzt von ›Streichhölzern‹. Mögen Sie eins?«
Sie griff nach einer Schachtel mit Schokoladenstäbchen neben ihrem Stuhl und hielt sie Lev hin. Er nahm ein Stäbchen. Ruby sagte: »Holen Sie sich den Hocker. Ich zeige Ihnen ein paar alte Schnappschüsse.«
Er setzte sich neben sie, und sie hielt ihm das schwere Fotoalbum hin. »Indien«, sagte sie. »Kurz vor dem Krieg. Das hier bin ich. Es war ein Laienfestspiel, das wir an unserer Klosterschule zum Empfang des Vizekönigs aufführten.«
Lev sah ein verblasstes Bild mit jungen Mädchen in knöchellangen Kleidern, die nebeneinander auf einer Bühne standen und seltsame Verrenkungen machten. Ihm fiel wieder ein, was sie Sophie und ihm erzählt hatte: »Wir haben aus Mädchen das Wort WILLKOMMEN dargestellt.«
»Sehen Sie das O? Ich bin eine Hälfte davon. Hier, die linke Hälfte. Mein Haar war damals dunkel.«
Lev blickte von dem Mädchen − so biegsam und kraftvoll, so entschlossen, ein wunderschönes halbes O zu sein − zu der faltigen, abgemagerten Ruby in dem schweren Sessel neben sich. Er sagte, sie sehe reizend aus, das Willkommens-Tableau sei sehr raffiniert.
Sie blätterte die Seite um, zeigte auf das Foto einer lächelnden Nonne, »Schwester Benedicta«, sagte sie. »Sie war meine Lieblingsnonne. Sie hat mir die Welt der Bücher nahegebracht. In ihrem Zimmer haben wir Gedichte von Thomas Hardy und A. E. Housman gelesen. Sie war ein so seelenvoller Mensch.«
»Haben Sie sie wiedergesehen?«
»Nein, ich weiß nicht, was aus ihr geworden ist. Nachdem mein Mann gestorben war, bin ich in den späten Siebzigern noch einmal nach Indien zurückgekehrt, aber die Klosterschule war geschlossen. In den Gebäuden war inzwischen eine Kleiderfabrikuntergebracht, wie sie es nannten. Ich bin hineingegangen, obwohl das nicht gestattet war. Ich werde den Lärm und den Anblick so vieler Frauen, die an elenden Nähmaschinen saßen, nie vergessen. Als wäre nicht schon eine Nähmaschine Horror genug! Und weiß der Himmel, wie viele Stunden sie daran sitzen mussten, die armen Seelen. Ich weiß noch, dass ich dachte: Ich werde nie wieder ein Kleid kaufen!«
Ruby klappte das Album zu und bat Lev, ihr zu erzählen, wie er ohne Sophie zurechtkam. Er zündete sich eine Zigarette an. Auf keinen Fall konnte er der alten Dame erzählen, dass er immer noch erotische Träume von Sophie hatte, immer noch einen Steifen kriegte, wenn er an ihre molligen, weichen Arme dachte. Deshalb schlug er eine andere Richtung ein. Er erzählte ihr, dass der Verlust von Sophie unter einem anderen Verlust begraben worden war − dem drohenden Verschwinden seines Dorfs im Staudamm von Auror.
»Oje«, sagte sie, »so etwas Furchtbares habe ich ja noch nie gehört, Lev. Die Häuser von Menschen ertränken! Großer Gott, da wünschte man sich fast wieder einen Vizekönig oder jemanden, der sich diese gefühllosen, engstirnigen Bürokraten vornimmt und sagt: ›Nein, das ist absolut indiskutabel!‹«
Lev lächelte. Er erklärte ruhig, dass das Staudammprojekt ihn auf die verrückte Idee gebracht habe, ein Restaurant zu eröffnen − »das Erste in meinem Land, in dem das Essen wirklich gut ist.«
»Oh, ein Restaurant!«, rief Ruby aus. »Wie herrlich. Das müssen Sie unbedingt. Was für eine Art Restaurant soll es denn werden?«
»Na ja«, sagte Lev, »nicht so groß. Fünfzig Plätze oder so. Was ich mir vorstelle, ist: alles sehr sauber und einfach. Holzfußboden. Weiße Tischdecken. Hübsche einfache Gläser. Vielleicht eine kleine Bar. Ein paar Ledersessel im Barbereich. Vielleicht ein Kaminfeuer im Winter ...«
»O ja, ein Feuer. Weil Ihre Winter doch kalt sind. Gute Idee.«
»An den Wänden hübsche Farbe. Vielleicht Ocker. Und alte Fotos − wie die in Ihrem Buch − von unserem Land in der Vergangenheit.«
»Fotos. Sehr gut. Die an die Vergangenheit erinnern. Das ist wichtig für uns alle. Und außerdem, denke ich mir gerade, Lev, könnte ein Gast, der auf eine Verabredung wartet, die sich vielleicht verspätet hat, ein bisschen umherwandern und die Fotos betrachten, anstatt verlegen dazusitzen, vor sich hin zu starren und sich wie ein Trottel zu fühlen.«
»Ja. Daran habe ich noch gar nicht gedacht.«
»Was ist mit Ihren Angestellten? Die müssen Sie sorgfältig wählen. Keine Mrs. Viggers!«
»Nein, nein. Ich möchte, dass alle meine Angestellten und besonders meine Kellner
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