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Der weite Weg nach Hause

Der weite Weg nach Hause

Titel: Der weite Weg nach Hause Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rose Tremain
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Löffel zum aufgesperrten Mund oder zur ausgestreckten Zunge, als verteilten sie Kommunionsoblaten. Lev wusste, dass sich einige Bewohner an ihn erinnerten und andere keine Ahnung hatten, wer er war. Während des komplizierten Hochamts ihres Sonntagsmahls schwiegen alle so lange, bis das Thema Mrs. Viggers und ihre Tochter aufkam.
    »Wenn ihr mich fragt, war Jane Viggers geistig gestört«, sagte Pansy.
    »Die konnte wirklich kreischen«, sagte Douglas. »Wie im verdammten Psycho .«
    »Mrs. Vig war nicht viel besser«, sagte eine verwelkte, unscheinbare Frau, die Hermione hieß. »Sie hat mir mal den Arm verdreht.«
    »Deinen Arm verdreht?«, sagte Berkeley.
    »Ja. Aus dem Gelenk gedreht. Sie war eine Marxistin.«
    »Sadistin meinst du doch, oder?«, sagte Pansy.
    Gelächter am Tisch.
    Lev fragte sich, worüber wohl alle lachten: über die Vorstellung, wie die gewaltige Mrs. Viggers sich über Hermiones mageren Arm hermachte? Oder über den falschen Gebrauch des Worts »Marxistin«?
    »Die Viggers haben immer Zeug aus der Küche abgegriffen ...« Das war Simone, die herumging und einen Nachschlag vom Rhabarberstreuselkuchen anbot.
    »›Abgegriffen‹?«, sagte Joan. »Was ist das denn?«
    »Man sieht, dass du nicht auf dem Laufenden bist«, sagte Douglas. »Es bedeutet klauen. Stehlen .«
    Ehrfürchtige Stille würdigte diese kostbaren Worte.
    »Ach, wirklich? Oh, erzähl uns davon, Simone, los.«
    Simone verteilte den Streuselkuchen. Mehrere Nachtischteller waren sauber leer gekratzt. »Ja«, sagte sie. »Ich wollt es ja schon bei Mrs. McNaughton erwähnen , aber ich dachte, ich werd gevierteilt oder was.«
    »Gevierteilt! Das gefällt mir. Was haben sie denn gestohlen, Liebes?«
    »Haufen von Zeug. Gab da mal in der Küche einen elektrischen Mixer und eine Saftpresse, aber die Viggers haben die abgegriffen. Dasselbe mit der Waage. Und kleine Sachen auch: Besteck, Gewürzständer, Schälmesser ...«
    »Messer!«
    »Hast du sie mal dabei gesehen , Simone?«
    »Na ja, nicht so direkt gesehen . Aber ich weiß, dass sie’s gemacht haben. Das war nämlich so. Mrs. Vig hat so eine Tasche für alles gehabt, die hat sie immer mitgehabt. Und ich weiß, dass diese Tasche vollgestopft war mit ... eben mit Sachen . Das ist kein Witz.«
    »Nun, was uns zu sagen bleibt«, erklärte Berkeley Brotherton, »ist: ein Glück, dass wir sie los sind. Bei der Marine wären sie schon vor langer Zeit rausgeworfen worden. Weil sie verdammt noch mal nicht kochen konnten!« Er lachte wiehernd − häck-häck-häck-häck! − , wobei das Lachen sehr schnell zu einem keuchenden Husten wurde. Er spuckte Schleim in sein Taschentuch.
    »Wird das Essen denn nun besser sein, mein Lieber?«, sagte Joan traurig zu Lev.
    »Sagen Sie ›Chef‹ zu ihm«, kicherte Simone.
    »Oh, Chef, ja, Entschuldigung, Liebes. Chef. Wird es ab jetzt besser sein, so wie heute?«
    Lev stand am Ende des Tischs. Er sah, wie all die Gesichter ihn anschauten. Es wurde still. »Ich weiß es nicht«, sagte er leise.
    »Soll das heißen, Sie bleiben nicht?«, sagte Berkeley.
    Lev schüttelte den Kopf. »Helfe nur aus heute.«
    »Verdammte Schande«, keuchte Berkeley.
    »Hört, hört«, sagte Douglas. »Ausnahmsweise teile ich die Meinung des Captains.«
    Nachdem das Essen beendet war und die Schwestern die Bewohner hinaus in die Sonne oder zurück in ihre Zimmer gebracht hatten, überließ Lev Simone das Einräumen in die Spülmaschine und suchte Ruby Constads Zimmer auf.
    Die Stimme, die auf sein Klopfen antwortete, klang gedämpft. Ruby saß mit einem Fotoalbum auf den Knien auf ihrem Stuhl am Bett. Als Lev eintrat, presste sie das Album an die Brust, als wäre er womöglich gekommen, um es ihr wegzunehmen.
    »Ich bin Lev, Mrs. Constad«, sagte er. »Ich war mit Sophie hier.«
    Sie blinzelte ihn angestrengt an. » Wer ist da?«
    Er ging näher heran. Sah, wie mager und eingefallen ihr Gesicht an den Stellen war, wo vor wenigen Monaten noch freundliche Polster gesessen hatten. Ihre einst so schönen Augen blickten verstört.
    »Ich bin Lev«, sagte er sanft. »Ich war Weihnachten hier. Und noch ein anderes Mal. Ich habe beim Kochen geholfen.«
    Ihr Blick wurde weicher. Sie streckte eine zerbrechliche Hand aus. Er legte die Lippen darauf und küsste sie, sah Rubys Lächeln.
    »Ich erinnere mich an Sie«, sagte sie. »Immer so galant .«
    »Ich kam, um zu sagen: Möchten Sie, dass ich Ihnen etwasvom Mittagessen bringe? Ich habe ein schönes Gratin gemacht ... und einen

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