Der weite Weg nach Hause
McNaughton setzte ihre Brille auf. Lev sah, wie sich ein Lächeln auf ihrem Gesicht ausbreitete. »Ich lasse das mal so durchgehen«, sagte sie. »Wir werden allen erklären, dass Simone es geschrieben hat. Es wird ein bisschen Gemurre geben, aber insgesamt, denke ich, wird es sie amüsieren. Und alles, was sie amüsiert, betrachte ich als Lichtstrahl in ihrer Dunkelheit.«
Und so wurde es ein Höhepunkt im Leben der Bewohner: das tägliche Lesen der Mittagsspeisekarte. Je ausgefallener dieFormulierungen, desto größer das Vergnügen der alten Bewohner von Ferndale Heights. Es war, als gebe die Sprache schon einen Vorgeschmack auf die Gerichte. Im Laufe der Wochen (die Kosten blieben konstant und das befristete Monatsexperiment war praktischerweise vergessen) wurde die Wortwahl immer kühner. So hörte Lev Berkeley Brotherton zur Mittagszeit etwa verkünden: »Ich nehme die ›verdammt köstlichen vegetarischen Würstchen mit dem Nichtscheißtütenkartoffelpüree‹«, oder Pansy Adeane zwitscherte vielleicht: »O Gott, ich weiß nicht mehr, was ich hatte, Lev, mein Lieber. Ich glaube, es war das ›total nichtverkackte, mit Guinness marinierte Irish Stew‹, oder gab es das Donnerstag?«
Beim Mittagessen ging es jetzt lebhafter zu. Man aß mehr, plauderte mehr, blieb länger am Tisch sitzen. »Wenn du mich fragst, ist es ein verdammtes Wunder«, hörte Lev eines Nachmittags Douglas sagen. »Wir essen hier jetzt besser als im Pub.«
»Stimmt«, sagte Joan, »aber ich wette, das bleibt nicht so.«
»Wieso soll das nicht so bleiben?«
»Nichts bleibt. Nichts Gutes bleibt.«
»Jedenfalls«, sagte Douglas, »hält es bis heute. Womöglich überlebt uns das Nichtscheißtütenkartoffelpüree noch.«
Nur Ruby Constad war nicht mit von der Partie. In Ferndale Heights machte das Gerücht die Runde, sie habe Magenkrebs und müsse bald verlegt werden.
»Verlegt wohin?« fragte Lev.
»In ein ... wie immer sie diese Scheißorte nennen«, sagte Berkeley Brotherton. »In das letzte Biwak.«
Ruby lag in ihrem Bett und starrte ihre Möbel an. Manchmal hörte sie ein altes Tonband mit gregorianischen Gesängen. Sie streckte Lev, wenn er kam, ihre zerbrechliche Hand mit der Schachtel Schokoladenstreichhölzer entgegen, aber er bemerkte, dass sie selbst davon nichts mehr aß.
Eines Tages saßen zwei Menschen mittleren Alters schweigend an ihrem Bett. »Das sind meine Kinder«, sagte Ruby leise zu Lev. »Das ist Noel, und das ist Alexandra.«
Sie rührten sich nicht von ihren Stühlen, streckten ihm auch nicht die Hand entgegen, nickten ihm nur zu. Es war heiß im Zimmer, aber er sah, dass Noel seinen leichten Mantel nicht ausgezogen hatte. Die Tochter Alexandra hatte einen wilden Tuff grauer Haare, trug einen langen Jeansrock und Sandalen dazu. Die Haut ihrer Beine wirkte blass und trocken.
»Arbeiten Sie hier?«, fragte sie Lev.
»Lev ist unser Küchenchef«, sagte Ruby stolz.
»Ach so«, sagte Alexandra.
»Mama kann nicht mehr richtig essen, stimmt doch, Mama?«, sagte Noel.
»Nein«, sagte Ruby. »Aber ich weiß, dass das Essen wunderbar ist, seit Lev die Küche übernommen hat. Erzählen Sie von den Speisekarten, Lev. Das wird meine Gäste amüsieren.«
Meine Gäste . So sprach sie von ihrem Sohn und ihrer Tochter. Lev blieb zögernd in der Tür stehen, bemerkte einen Strauß billiger Nelken, der, noch im Papier, auf einem der alten indischen Tische lag. »Na ja«, sagte er, »eigentlich ist es albern. Auf unseren neuen Speisekarten versuchen wir zu beschreiben, wie frisch alles ist ...«
»Ja, aber Sie erzählen es nicht richtig«, sagte Ruby. »Es ist nämlich so, dass Simone, das Mädchen, das Lev in der Küche hilft, die Speisekarten schreibt, und sie benutzt absichtlich unerhörte Wörter, und dann steht da zum Beispiel ›selbstgebackener Nichtscheißstreuselkuchen‹ oder ›Sorbetrezept, geklaut von einem berühmten Küchenchef‹ und lauter so komische Sachen.«
Die »Gäste« lächelten schwach, müde. Rubys Gesicht auf dem Kissen hatte die Farbe von Talg. »Findet ihr das nicht komisch?«, fragte sie ihre Kinder.
»Eigentlich nicht«, sagte Noel. »Nicht, wenn du nichts davon essen kannst.«
»Darum geht es nicht«, sagte Ruby. »Es hat ihnen allen solche Freude bereitet. Darum geht es doch.«
Ruby sank wieder in ihr Kissen. Sie hatte Lev erklärt, dass das Sprechen sie ermüde, dass sie gern hier liege, von der Vergangenheit träume und dabei das Gefühl habe, sie befinde sich nicht an irgendeinem
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