Der weite Weg nach Hause
dir: Wir haben dich alle längst vergessen .«
Rudi legte auf. Lev lag da mit dem Telefon in der Hand. Redete sich ein, dass Rudi betrunken war, dass nichts von dem, was er gesagt hatte, viel zu bedeuten hatte. Und trotzdem spürte er es, spürte es tief in seinem Herzen − das Entsetzen darüber, dass sie ihn angeblich vergessen hatten. Er streckte einen Arm aus, wollte irgendetwas halten, an seinen erschöpften Körper drücken, doch auf seinem Bett war nichts, nur er selbst lag da, ausgestreckt und die Füße in alten, abgetragenen Socken.
Jetzt bemerkte er es überall um sich herum, dieses Vergessen. Alle aus seiner Heimat hatten sich von ihm abgewandt. Sogar Lydia.
Er hatte an die Adresse ihrer Eltern in Yarbl einen weiteren Scheck geschickt, doch der war nie eingelöst worden. Er hatte sie fünf- oder sechsmal auf ihrem Handy angerufen, aber sie hatte nie abgenommen. Inzwischen hatte er den Verdacht, dass sie ihr Telefon einfach abstellte, sobald sie seinen Namen auf dem Display sah. Er hatte Nachrichten hinterlassen, sich dafür entschuldigt, dass er sie in der Nacht, als er überfallen wurde, um Geld gebeten hatte, er sei, hatte er erklärt, nach dem Erlebnis in der Swains Lane nicht ganz bei Verstand gewesen, und bat sie zurückzurufen. Aber es kam kein Rückruf.
An einem Sonntagmorgen wagte er einen letzten Versuch. Hörte, wie es klingelte. Stellte sich irgendein geräumiges Hotelzimmer in Brüssel oder Amsterdam vor. Wünschte sich sehnlichst, sie aufgeregt von einem weiteren gloriosen Marmorbad, einem weiteren samtweichen Morgenmantel berichten zu hören.
Doch es war ihre vertraute Mailbox, die ansprang:
Sie haben die Nummer von Lydia gewählt, der persönlichen Assistentin von Pjotr Greszler. Leider kann ich diesen Anruf nichtpersönlich entgegennehmen. Bitte versuchen Sie es später noch einmal oder hinterlassen Sie eine Nachricht.
Lev seufzte. Er sprach weich ins Telefon. »Lydia«, sagte er, »ich bin’s, Lev. Ich habe viele Nachrichten hinterlassen. Ich möchte Sie nicht nerven. Sicher haben Sie ein volles Programm, aber ich möchte gerne wissen, ob Sie mir verziehen haben.«
Hier machte er eine Pause. Dann sagte er: »Ich würde wirklich gern mit Ihnen sprechen. Ich würde gern hören, wie es Ihnen geht ... Das ist, glaube ich, alles. Außer, dass ich das Gefühl habe ... ich weiß nicht, wie ich es sagen soll. Ich habe das Gefühl, dass alle Menschen aus der Heimat mich einfach ... fallen gelassen haben ... und, na ja, das ist unerträglich.«
Er wollte auflegen, fügte dann aber hinzu: »Ach ja, und ich habe noch eine Frage. Ist der ›Jumper‹, an dem Sie im Bus gestrickt haben, jemals fertig geworden? Weil ich nie gesehen habe, wie Sie ihn trugen. Ich wüsste schrecklich gern, ob Sie jemals die Ärmel gestrickt haben.«
Er wartete. Ein bisschen hoffte − erwartete − er, sie werde sofort zurückrufen, und sei es nur, um vom Jumper zu erzählen. Er saß da, das Handy auf den Knien, rauchte und blickte hinaus auf die Belisha Road, wo Schneeregen fiel. »Ruf an«, flehte er stumm. Aber die Zeit verging, und kein Anruf kam.
Er stand auf und kochte sich einen Tee. Er wusste, eigentlich brauchte er sich nicht zu wundern, dass Lydia jetzt nichts mehr mit ihm zu tun haben wollte. Und trotzdem wunderte er sich. Er war immer davon ausgegangen, dass Lydia und Pjotr Greszler eine gewisse Rolle in seinem zukünftigen Leben spielen würden, aber vielleicht war es eben doch nicht so. Vielleicht würde es ab jetzt nur noch ihr vorwurfsvolles Schweigen geben.
Er war versucht, noch einmal ihre Handynummer zu wählen, fürchtete aber plötzlich, in eine andere Zeitzone zu geraten, fürchtete, sie aufzuwecken.
Als Lev eines Morgens nach Ferndale Heights kam, wurde er in Mrs. McNaughtons Büro gerufen. »Mrs. Constad ist gestern Nacht ins St. John’s verlegt worden«, sagte sie. »Ich habe ihr versprochen, Sie zu fragen, ob Sie ihr einen Besuch abstatten.«
»St. John’s?«
»Das Hospiz St. John’s. Nicht weit von hier. Gehen Sie noch heute. Ich helfe Simone bei der Vorbereitung des Abendessens, dann können Sie schon nach dem Mittagessen los.«
Lev saß schweigend auf dem harten Stuhl, Mrs. McNaughton gegenüber. Sie sagte: »St. John’s ist ein gutes Haus. Von katholischen Nonnen geleitet. Mrs. Constad ist in einem Kloster in Indien katholisch erzogen worden, weshalb ich hoffe, dass sie sich ein wenig zu Hause fühlen wird. Aber für Sie muss es natürlich sehr traurig sein.«
Lev
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