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Der weite Weg nach Hause

Der weite Weg nach Hause

Titel: Der weite Weg nach Hause Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rose Tremain
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kommst überhaupt nicht mehr zurück. Ach, Scheiße, ich weiß, dass es elf Uhr morgens ist oder so, aber kommt, wir trinken was zur Feier des Tages. Wodka zum Sterilisieren!«
    Rudi stand auf, um die Gläser und den Woditschka zu holen.
    Lev blickte sich in dem vertrauten Zimmer um und dachte, er könnte hier gut für immer mit seinen Freunden sitzen: einfach die Zeit vergehen lassen und nie mehr von ihrer Seite weichen.
    Er griff nach dem Wodka.
    Am nächsten Morgen erwachte Lev auf Rudis Sofa. Die Welt war in Eis eingeschlossen. Tautropfen waren zu einer Million glitzernder Glassplitter erstarrt. Die aufgehende Sonne machte diese blendende Welt aus Glas zu einem atemberaubenden Anblick.
    Lev saß mit Rudi und Lora am Küchentisch und pflegte seinen Kater, trank Fanta und knabberte alte Reiskekse. Hinter dem Fenster klirrten die vereisten Bäume im leichten Nordwind wie ein Wald aus Kronleuchtern.
    Der Gedanke war verlockend, hier zu bleiben, in der Nähe des Holzofens, sich einen ganzen Tag lang nicht fortzubewegen, nachmittags zu dösen, endlos mit Rudi und Lora weiterzureden, bis eine zweite Nacht hereinbrach. Aber Lev sehnte sich jetzt danach, seine Tochter zu sehen.
    Dies würde der Tag sein, an dem er wirklich zu Hause ankam.
    »Pass auf«, sagte Rudi, »lass mich zuerst gehen und Ina vorbereiten. Sonst fällt sie, wenn sie dich sieht, einfach vornüber in den verdammten Holzhaufen. Du kommst dann nach.«
    »Nein«, sagte Lev. »Ich weiß, wo Mama sonntagmorgens immer ist: in der Kirche. Ich warte draußen auf sie. Sie ist dann sehr heilig gestimmt und mit einigem Glück schreit sie mich nicht an.«
    »Ja, aber vielleicht bleibt ihr das Herz stehen.«
    Lev seufzte. »Dann ist es ein schöner Tod. Sie stirbt vor der Kirche und in dem Bewusstsein, dass ihr verlorener Sohn schließlich doch noch heimgekehrt ist.«
    Lev duschte, packte seine Tasche und brach auf. Er ging langsam durchs Dorf. Hinter geschlossenen Fenstern, hinter Spitzengardinen sah er, wie ein oder zwei Menschen ihn anstarrten, eine Gestalt, die allein durch den leeren Morgen wanderte und die sie halb wiedererkannten.
    Jetzt stand er vor seinem Haus und schaute es an. Nichtsregte sich hier: nicht der geringste Laut. Selbst die Maschinen am Fluss waren verstummt. Der Lauf der Jahreszeiten hatte die Bohlen der Holzveranda grauweiß gebleicht. Ein kleines violettes Fahrrad lehnte neben der Haustür an der Wand.
    Lev merkte, dass er zitterte. Er war nicht an die Kälte in Auror gewöhnt. Und er fragte sich, wie er all die vielen Winter auf dem Holzhof hatte überstehen können. Diese Arbeit kam ihm inzwischen beinah unmenschlich vor, so als wäre sie von jeher eine Art unausgesprochener Strafe gewesen − die Strafe für das schlichte Verbrechen, in einem komplizierten Zeitalter zu leben.
    Er stieg die Stufen zu seiner Haustür hoch. Er konnte es sich vorstellen. Konnte sich vorstellen, wie hinter seinem Rücken die Flut stieg, wie sie alles verschlang, was auf dem Boden liegen geblieben war − kaputtes Werkzeug, Säcke mit verrotteten Kartoffeln, Plastikeimer, von Hunden liegen gelassene Hühnerknochen −, wie sie jetzt begann, die Häuserwände zu umspülen, zu steigen, grün und dunkel ... Und während er zitternd vor seiner Haustür stand, dachte er, dass das egal war. Auror war ein so einsamer Ort, so aus der Zeit gefallen, dass es richtig war, ihn zu ertränken, richtig, seine Einwohner zu zwingen, ihre schlechten Straßen, ihre Geistertücher hinter sich zu lassen und ins 21. Jahrhundert einzuziehen.
    Anstatt zur Kirche ging Lev in das Haus, hockte sich vor den Holzofen und versuchte, warm zu werden. Der Raum roch nach feuchter Wolle. Auf einem hölzernen Wäscheständer trockneten kleine Kleidungsstücke von Maya. Die Puppe, die sie Lili genannt hatte, saß mit zugeklappten Augen in einem Stuhl. Lev ging zu seiner Tasche und holte die Geschenke heraus, die er für seine Mutter und seine Tochter gekauft hatte, und legte sie auf den Tisch neben ein paar Plastikblumen, die Ina in eine Glasvase gesteckt hatte. Er zündete sich eine Zigarette an und wartete.
    Nach einer Weile, die ihm sehr lang vorkam, hörte er ihreStimmen, Mayas elfenleicht in der eisigen Luft, Inas ein tiefes, besorgtes Brummen. Er ging zur Tür, öffnete sie und sah beide den Weg herauf kommen. Ina in ihrem schwarzen Umschlagtuch stieß einen schrillen Schrei aus und fasste sich an die Brust. Maya blieb stehen und starrte ihn an. Er wusste nicht, was er tun sollte, außer zu

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