Der weite Weg nach Hause
zu ihm umdrehten?
Mit einem Mal wünschte er sich, ganz irrational, Christy Slane wäre mitgekommen, als Kamerad, als echter Fremder, zu dem alle höflich und gastfreundlich sein müssten, als Schild, hinter dem er sich verstecken könnte. Denn so allein in dieser leeren weißen Landschaft kam er sich auf schmutzige Weise nackt vor, als hätte seine Familie ihn noch nie gesehen, jedenfalls nicht so, wie er wirklich war, und wenn sie jetzt den wahren Lev sahen, würden sie sich angeekelt abwenden.
Er ging weiter hügelaufwärts, war jetzt kurz vor der altvertrauten Stelle, wo die Straße wieder abfiel. Jeden Augenblickwürde sein eigenes Haus auftauchen. Das Wumm-wumm war jetzt lauter, näher ... Dann hörte er Motorenlärm und sah, als er den höchsten Punkt erreichte, den unverwechselbaren blauweißen Tschewi langsam auf sich zukommen. Lev starrte das nahende Auto an. Es rumpelte voran − lag wie eh und je beeindruckend tief auf der Straße, die Chrombeschläge blitzten wie immer in der Sonne, und am Steuer ... ja, das konnte nur ein einziger Mensch sein. Kein Kunde neben ihm. Nur Rudi, wahrscheinlich auf einer frühen Taxitour nach Baryn.
Lev setzte die Tasche ab. Ohne langsamer zu werden, fuhr der Tschewi beschaulich den Hügel herauf, und sein alter amerikanischer Motor klopfte und gurgelte immer noch wie der große Außenbordmotor eines Schiffs. Jetzt konnte Lev erkennen, dass Rudi gegen das grelle Weiß des Schnees eine Sonnenbrille trug. Er wollte den Arm heben, aber der fühlte sich mit einem Mal ganz schwer an, also blieb er einfach stehen, wo er war, und wartete auf den Moment, in dem Rudi ihn erkannte.
Jetzt wurde das Auto etwas langsamer, aber nur unwesentlich − eher als Zeichen der Höflichkeit gegenüber einem Fremden am Straßenrand. Der Tschewi hielt nicht an, sondern fuhr vorbei. Lev konnte das Autoradio hören.
Wumm-wumm-wumm ... Wumm-wumm-wumm ... Wumm-wumm-wumm ... Die Ramme, der Rhythmus der Musik aus dem Auto, das Klopfen seines eigenen Herzens − alles zusammen schloss Lev in einer kalten Höhle aus Schmerz ein. Sein Freund hatte ihn gesehen und war weitergefahren, war weggefahren!
Lev drehte sich um, in Fahrtrichtung des Tschewi, hob beide Arme in einer Geste der Verzweiflung, sah, wie die Bremslichter des Wagens aufleuchteten, sah, wie er hügelabwärts zum Stehen kam.
Er wartete. Überall um ihn herum schmolz und glitzerte der Schnee.
Er ließ die Tasche stehen und ging auf den Tschewi zu, sahdie Fahrertür mit dem gewohnten heftigen Schwung aufspringen, sah Rudi in gebückter Haltung aussteigen. Er trug den schäbigen kanadischen Wintermantel, den er auf dem Baryner Markt gegen zwei überzählige Reifen eingetauscht hatte. Sein Haar war grau und wirr.
»He!«, rief er. »Lev! Was zum Teufel ...?«
Er stand neben der offenen Wagentür, hielt sich daran fest, als brauche er eine Stütze.
Und Lev fragte sich: Was ist los mit ihm? Ist er krank, ist er lahm oder was? Wieso bewegt er sich nicht?
Doch dann, als Lev näher kam, begann Rudi ihm entgegenzugehen, und das Gehen wurde ein Laufen oder, genauer, ein Traben mit Schlagseite, die einzige schnelle Gangart, zu der Rudi, nach längst vergangenen Jugendjahren, in der Lage war.
»He!«, rief er wieder. »He, Kamerad!«
Dann erreichten die beiden Männer einander und umklammerten sich in einer müden, erschöpften Umarmung, fast wie Schwergewichtsboxer kurz vor Ende eines Kampfs. Lev wollte Rudis Namen sagen, versuchte es, merkte aber, dass er nicht in der Lage war zu sprechen.
Jetzt saß Lev in Rudis Küche. Lora neben ihm hielt seinen Arm. Ihnen gegenüber saß Rudi, der seinen Freund mit einer gewissen Ehrfurcht anstarrte.
»Irgendwie«, sagte er, »bin ich so was wie ein alter Apostel mit gebrochenem Herzen, der dein Grab aufsucht, und plötzlich steigst du heraus, mit Löchern in deinen verdammten Füßen.«
Sie tranken Kaffee und aßen Zimtkekse. Das kleine Haus roch nach Zigarettenrauch und verbranntem Holz. Lev fiel auf, dass die Decke über dem Ofen schwarz vor Ruß war. Loras Hand auf seinem Arm fühlte sich warm und tröstlich an.
»Und was jetzt?«, sagte Rudi nach einer Weile. »Was passiert als Nächstes?«
Lev nahm noch einen Keks und einen Schluck Kaffee. Er erahnte die Bedeutung des Augenblicks.
Was passiert als Nächstes?
»Okay«, begann er. »Folgendes passiert als Nächstes. Ich habe Geld gespart. Ziemlich viel Geld. Mehr, als du oder ich während unserer Jahre in der Mühle jemals verdient haben. Und
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