Der weite Weg nach Hause
dem Bus vom Flughafen Glic nach Baryn und weiter in sein Dorf fahren.
Im ersten der vertrauten, klapprigen Busse, der aus irgendeinem schwarz verfärbten Teil seiner Technik Hitze herauswürgte, suchte Lev sich einen Fensterplatz und musste ständig die beschlagenen Scheiben wischen, um auf sein Land hinausschauen zu können − auf die verlassenen Höfe und stummen Fabriken, die menschenleeren Kohlenlager und Holzhöfe, auf die neuen hohen Mietshäuser und den flimmernden Herzschlag der hell erleuchteten amerikanischen Filialen − auf eine Welt, die auf einem schmalen Grat entlangschlidderte, der die dunkle Felswand des Kommunismus von der verführerischen taghellen Leere des freien Marktes trennte.
Lev war froh über die Schneedecke, die die Hässlichkeit der Vorstädte abmilderte, die niedrigen Häuser in den Dörfern malerisch erscheinen ließ und den Mauleseln Schönheit verlieh, die mit Schilfbündeln auf den knochigen Rücken durch den purpurnen Abend geführt wurden. Fast hoffte er sogar, die Straße hinter Baryn möge unpassierbar sein, was seine Ankunft in Auror verzögern würde.
Es war schon dunkel, als der Bus ins Baryner Depot einfuhr, und die Dunkelheit lieferte Lev den Vorwand, in dieser Nacht nicht noch weiter zu fahren. Es erwartete ihn ja auch niemand. Kein Essen war vorbereitet, kein Licht, kein Feuer für ihn angezündet. Es sei besser, redete er sich ein, er käme erst am nächstenMorgen in Auror an, wenn der Schnee hoffentlich sauber in der Sonne strahlte, wenn Maya in der Schule war, Ina in ihrem Schuppen arbeitete und Rudi mit dem Taxi seine Touren fuhr. Lieber unter blauem Himmel ankommen.
Im Zweisternehotel Kreis fand er ein Zimmer mit Doppelbett und einem alten Fernseher auf einer Plastikkonsole, die sich unter dem Gewicht des Geräts bog. Im Speisesaal des Hotels wurde Lev eine Mahlzeit aus einer Dosensuppe und einem unidentifizierbaren Eintopf serviert. Ihm fiel auf, dass die Tischdecke Flecken hatte und die Zinken der Gabeln angelaufen waren. Er trank eine Karaffe tintenroten Wein und schlief ein, während die Trambahnen vor seinem Schlafzimmerfenster quietschten und schepperten und es über und unter ihm im Hotel summte und wogte, als füllte ein unbekannter Binnensee langsam die Hohlräume zwischen den Wänden. Er schlief einen traumlosen, erschöpften Schlaf.
Der Morgen brachte Sonne und einsetzendes Tauwetter.
Lev verließ den Bus außerhalb von Auror und schaute auf sein Dorf, dann auf die Hügel dahinter. Er stand schweigend auf der leeren Straße. Er horchte auf die vollkommene Stille. Dachte, dass er in all den hier verbrachten Jahren eigentlich nie wirklich wahrgenommen hatte, wie einsam Auror tatsächlich lag, jenseits jeglicher blühender Zivilisation. Nichts bewegte sich in der Schneelandschaft, nur die schweigend fallenden glitzernden Tautropfen in den Hecken.
Dann hörte Lev ein leise grollendes Geräusch, das wie ein Generator klang. Von hier aus konnte er den Fluss nicht sehen, entdeckte aber, als er in die Richtung blickte, die Spitze eines Stahlkrans, der die Bäume überragte. Jetzt kam zu dem Grollen noch das Wumm-wumm-wumm-wumm der Ramme. Da begriff Lev, dass sie begonnen hatte: die Arbeit an dem Projekt von Herausragendem Öffentlichen Nutzen (PHÖN), Aktenzeichen Damm Nr. 917, angrenzend Dorf Auror.
Lev nahm seine Tasche. Er konnte sein Herz laut schlagen hören, beinah im Takt mit dem Wumm-wumm der Maschine, die Pfähle ins Flussbett rammte. Als die ersten Häuser in Sicht kamen, zögerte er und blieb stehen. Warum war er so unerträglich, dieser Augenblick der Rückkehr? So lange hatte er ihn sich anders ausgemalt, sich vorgestellt, wie all die vertrauten Gesichter ihn hinter der Absperrung in der Ankunftshalle des Flughafens anlächelten, wie Maya ihm entgegengelaufen kam und die Arme um ihn schlang ... und jetzt war er hier, ging schweigend wie ein Gespenst in sein Dorf, als hätten er oder das Dorf − oder beide − sich irgendeines entsetzlichen Vergehens schuldig gemacht.
Wer da?
Nein, mir antwortet; steht und gebt Euch kund!
Plötzlich fiel Lev ein, dass Sonnabend war. Das machte alles noch schlimmer. Denn nun hatte er keine Ahnung, wo sie sein würden; und er wusste nicht, wie er sie sich am ehesten vorstellen sollte. Würde Ina in ihrem Schuppen arbeiten? Würde Maya mit ihren Freunden im Schnee spielen? Oder würde er beim Betreten seines eigenen Wohnzimmers erleben müssen, dass beide vor dem Holzofen saßen und sich mit entsetzten Blicken
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