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Der weite Weg nach Hause

Der weite Weg nach Hause

Titel: Der weite Weg nach Hause Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rose Tremain
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Freude gelacht. Er entschuldigte sich bei Lydia, dass er sie belästige, und sie sagte, das sei keine Belästigung, sondern ein Vergnügen, und er erklärte ihr die Sache mit der Zeitung und den Stellenanzeigen, die er nicht verstehen konnte.
    »Aha«, sagte Lydia sofort, »Sie brauchen eine Übersetzerin. Kommen Sie doch einfach heute Abend nach Muswell Hill, dann können wir in Erinnerungen an unsere Busreise schwelgen.«
    Lev fragte, wo Muswell Hill sei, und Lydia sagte, es sei eine hübsche Gegend, wo die Häuser und Wohnungen alle Gärten hätten und wo man nachts Füchse bellen hören konnte, und diese Füchse würden vom Hausmüll leben und ihre Jungen inHöhlen aufziehen, die sie schlau unter Gartenmauern gegraben hätten.
    »Oh«, sagte Lev. »Dann bin ich hier wie ein Fuchs. Ich habe in einer Höhle unter der Straße geschlafen.«
    Das brachte Lydia aus der Fassung. Sie sagte, sie hole jetzt den Streckenplan der U-Bahn und werde ihm erklären, wie er nach Highgate komme, das sei die nächste Station für Muswell Hill. Sie sagte, wenn er dort ankomme und aus dem U-Bahnhof trete, werde sie da auf ihn warten und sie würden zur Wohnung ihrer Freunde gehen, die Larissa und Tom hießen, und Lev könne mit ihnen zusammen essen.
    Fast den ganzen Tag verdöste Lev in seinem Fuchsbau, und die Sonne kam und ging, und er rollte sich Zigaretten und horchte auf die Geräusche der Straße. Ein Briefträger kam die Kellertreppe herunter und steckte Post in Kowalskis Briefkasten, aber er eilte davon, ohne Lev zu entdecken. Als er hungrig wurde, aß er den übrig gebliebenen Brotkanten und die letzten beiden Salamischeiben.
    In der vollen U-Bahn saß Lev sehr still und hielt seine Tasche fest. Er ließ den Blick schweifen, beäugte die Mitfahrenden und dachte, dass die meisten Menschen in seinem eigenen Land einander ähnlich und gleich groß waren, aber hier in Großbritannien schien es eine Ansammlung verschiedenster Nationalitäten zu geben, und diese Körper in allen erdenklichen Hautfarben schienen so gut genährt zu sein, dass sogar afrikanischen Mädchen, die sicherlich noch vor einer Generation schlank und anmutig gewesen wären, jetzt Übergewicht hatten: schwanger wirkende Bäuche, die aus ihrer knappen Kleidung quollen, und breite, runde Gesichter und hässliche schwammige Hände mit Silberschmuck, der sich in die Wurstfinger grub. Und es wurde eine Menge gegessen, direkt hier in der U-Bahn. Eines der afrikanischen Mädchen lutschte einen Lolli. Kinder füllten sich den Magen mit Chips, schaufelten sich das Zeug, wie Babys,mit ihren fetten kleinen Händen in den Mund. Zwei riesige weiße Männer, die mit weit gespreizten Beinen dasaßen, als wollten sie die obszöne Beule ihrer Geschlechtsteile vorzeigen, vertilgten Hamburger aus Pappschachteln, und die Zwiebeln rochen nach irgendetwas Verwesendem, und Lev hielt sich die Hand vors Gesicht. Als die Männer ausstiegen, ließen sie die halbleeren Schachteln auf einem schmalen Bord über den Sitzen liegen und den Waggon vollstinken. Lev wurde übel. Jeder wusste, dass Amerika ein Land der Dicken war, aber die Nachricht von Englands Abstieg in die Fettleibigkeit war irgendwie noch nicht bis nach Auror gelangt. Dort hatte man immer noch die Vorstellung, Engländer seien bleich und dünn. Und sie trügen die Gürtel eng geschnallt.
    Als Lev am Bahnhof Embankment in die Northern Line umstieg, kam er an einem Saxofonspieler vorbei, der in einem der langen, luftlosen Gänge für Geld spielte, und ihm fiel auf, dass dieser Mensch, wie er selbst auch, sehr dünn war, und er fragte sich, ob er wohl von sehr weit her kam und dort in der U-Bahn-Station auf einem zerlumpten Mantel schlief und ansonsten die Zeit mit dem Beobachten der Touristenboote auf dem Fluss totschlug. Gern hätte er auch gewusst, wie viel Geld er wohl verdiente. Weil alle hier in Eile waren, blieb keiner stehen, um ihm ein paar Münzen hinzuwerfen, auch wenn einige, ohne es zu merken, anfingen, im Takt der Jazzmusik zu gehen. Aber der Typ spielte einfach weiter. Das war jedenfalls besser als Betteln, fand Lev. Es war eine Möglichkeit, sich die Zeit zu vertreiben.
    Die Fahrt von Embankment nach Highgate dauerte so lange, dass es schien, als wäre Muswell Hill eine andere Stadt. Lev wurde die Tasche auf seinen Knien schwer. Er sehnte sich zurück ans Tageslicht. Er sehnte sich nach einer Zigarette. Die Erschöpfung in den Augen seiner Mitfahrenden übertrug sich nun auch auf ihn. Und ihm fiel ein, wie ihn in

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