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Der weite Weg nach Hause

Der weite Weg nach Hause

Titel: Der weite Weg nach Hause Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rose Tremain
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kurzer Sturm, wie ein Albtraum, aus dem man wieder erwachen kann. Aber er wollte nicht vergehen, und so stand Lev da und weinte, und nach einer Weile − er wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war − hörte er Ahmed an die Tür klopfen.
    »Lev«, rief Ahmed leise. »Was ist los mit meinem Prospektemann?«
    »Nichts«, stammelte Lev.
    Einen Moment lang war es still, und dann sagte Ahmed: »Wenn Männer weinen, ist es nie wegen nichts − und das ist nicht eins von meinen Sprichwörtern. Das ist die Wahrheit.«
    Inmitten seines Kummers kam Lev sich auch töricht vor. »Entschuldigung«, sagte er. »Entschuldigung.«
    »Okay«, sagte Ahmed. »Ich mache dir einen Kaffee. Lass dir Zeit. Dann kommst du heraus und trinkst den Kaffee. In Ordnung?«
    Lev hörte, wie Ahmed wegging. Das Angebot rührte ihn, und er dachte: Der Mensch des 21. Jahrhunderts ist zwar ein Hund, aber manchmal ein treuer Hund, er kennt den Trick, wie man Zuneigung zeigt.
    Noch einen Tag.
    Er erklärte Ahmed, er werde noch einen Tag Prospekte verteilen, aber danach müsse er eine Arbeit finden, die besser bezahlt sei.
    Ahmed sagte: »Ich verstehe. Meine Bezahlung ist scheiße. Ich weiß. Ich bin ein sehr kleiner Laden mit einer sehr großen Scheißmiete. Aber was für eine Arbeit willst du finden?«
    »Ich weiß nicht«, sagte Lev.
    »Ich sage dir, mein Freund, geh zur Arbeitsvermittlung, und sie helfen dir nicht.«
    »Sie helfen mir nicht?«
    »Nein. Catch-22. Weißt du, was das bedeutet?«
    »Nein.«
    »Eine Zwickmühle. Ein amerikanischer Ausdruck für Situationen, in denen man auf jeden Fall verliert.«
    »Ja?«
    »Um eine Arbeit zu kriegen, muss man ein Jahr Arbeitslosengeld beziehen. Um Arbeitslosengeld zu beziehen, muss man ein Jahr in diesem Land gearbeitet haben. Komisch, nicht? Verstehst du jetzt? Catch-22.«
    Lev versuchte sich mit dem neu gekauften Tabak eine Zigarette zu drehen. Seine Hände zitterten noch von seinem Weinkrampf. Aus seinem Englischunterricht konnte er sich an das Wort »Arbeitslosengeld« erinnern, wusste aber, dass es verschiedenste Bedeutungen implizierte, die er nie richtig hatte entwirren können. Er versuchte sich das, was sein Lehrer gesagt hatte, wieder ins Gedächtnis zu rufen, während er zusah, wie Ahmed die Reste seines Fleischkegels vom Spieß herunterhackte, sie in den Mülleimer warf und den Drehmechanismus vom Fett zu säubern begann. Lev rollte die dünne Zigarette zu Ende und zündete sie sich an, der Geschmack des Virginiatabaks war so ungewohnt wie der süßliche Atem eines Fremden.
    Nach einer Weile wischte Ahmed sich die Hände an einem fleckigen Geschirrtuch ab und wandte sich wieder an Lev. »Kaffee gut?«, sagte er.
    »Ja. Danke, Ahmed. Du bist freundlich.«
    »Ich bin ein guter Muslim, das ist alles. Im Himmel habe ich wenigstens ein paar Jungfrauen sicher.« Ahmed lachte.
    Lev fragte sich, ob diese »Jungfrauen« in Ahmeds Kopf wohl Brüste wie Kürbisse und fettglänzende Lippen hatten. Dann wühlte Ahmed in einem vollgestopften Regal unter der Theke, zog eine zerknüllte Zeitung hervor und legte sie Lev hin.
    »Evening Standard« , sagte Ahmed und fuhr mit dem Daumen über die zwei schwarzen Wörter. »Londoner Zeitung. Da guckst du rein, Lev. Guck sehr genau. Such die Seiten ›ESJOBS‹. Hunderte Zimmer zu vermieten. Heute verteilst du meine Prospekte. Morgen suchst du dir eine Arbeit, und zwar hier in dieser Zeitung. Arbeit und Zimmer. Okay? Dann ist alles in Butter.«
    Als sein Tag zu Ende war und Ahmed ihm weitere fünf Pfund gezahlt hatte, wusste er nicht, wo er hingehen sollte, außer zurück zu seinem Versteck in Kowalskis und Shepards Hof. Diesmal bestand sein Abendessen aus einem dunklen Brot und einem Päckchen Salami. Von den fünf Pfund, die er verdient hatte, waren nur noch 2,24 Pfund übrig. Er wagte kaum daran zu denken, was alles kostete. Um seinen Durst zu löschen, trank er vom Wasser aus dem Schlauch.
    Die Nacht kam, und die Wohnung blieb dunkel. Lev saß in seinem Loch unter dem Gehsteig und rauchte und holte eine Taschenlampe aus seiner Tasche und begann, die Anzeigenspalten der Zeitung zu studieren:
    Handlanger ges. Croydon ... Installateure f. Wartg. Bauerf. ... Trockenbauer in Kol. Sydenham ... Sicherheitspers. U-Bahn Festanst. ... lizens. Klempner eig. Werkzeug ...
    Sein Kopf sehnte sich nach Ruhe. Er legte sich nieder. Er ließ die Taschenlampe brennen und richtete ihren Strahl auf die Hortensienblüten, und dieses elektrische Blau erinnerte ihn daran, wie er einmal

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