Der weite Weg nach Hause
Yarbl oder Glic jedes Mal dieselbe Müdigkeit überfallen hatte, eine Müdigkeit,die von Menschenmengen herrührte, vom Atem der anderen, vom harten Licht der Stadt, davon, dass man für so viele Augen sichtbar war. Und ihm wurde klar, dass er seit der Schließung der Baryner Sägemühle kaum noch mit Menschen umging, außer mit Maya und Ina und gelegentlich Rudi und Lora, und dass er nach diesem unsichtbaren Leben nicht auf die Großstadt vorbereitet und nicht an dieses Ausgesetztsein gewöhnt war.
Lydia erwartete ihn, wie versprochen, draußen vorm U-Bahnhof.
Sie trug ein bedrucktes Sommerkleid mit einem Muster aus scharlachroten Blumen, und ihre Arme waren nackt und blass, und sie trug eine Sonnenbrille mit blauen Gläsern gegen das helle Licht. Als sie Lev erkannte, lächelte sie, und als er auf sie zutrat, breitete sie ihre blassen Arme aus, als wäre Lev ein Freund, den sie schon ein Leben lang kannte.
Sie sagte, es sei nicht weit zu Tom und Larissas Wohnung, und während ihres Fußmarschs durch abschüssige Straßen mit schiefen und welligen Gehsteigplatten und üppig grünenden Gärten und einer von Buchsbaum- und Rosenduft geschwängerten Luft, erzählte sie Lev, dass Larissa aus ihrer beider Land komme und Yogalehrerin sei und Tom ein englischer Psychotherapeut, der sehr gut verdiene und mit allem, was ihm gehörte, großzügig umgehe. »Wie Sie sehen«, fasste sie zusammen, »ist Muswell Hill ein Paradies.«
Die Wohnung befand sich im Erdgeschoss eines mehrstöckigen Hauses und hatte einen Kellerbereich mit separatem Eingang zu Toms Therapieraum, der Gästetoilette und einem Aufenthaltsraum, wo die Patienten warten oder sich erholen konnten. Dahinter lag ein vernachlässigter Garten, in dem eng zusammenstehende Apfelbäume einen tiefen Schatten warfen und ein paar gesprungene Terrakottatöpfe mit Geranien bepflanzt waren. Das Wohnzimmer war lang und hell, mit Holzfußboden,afghanischen Teppichen, abgewetzten Ledersofas, einem Klavier und einem runden Tisch, der fürs Abendessen gedeckt war. Lev stand in der Tür, hatte seine Tasche abgesetzt und starrte in den Raum. Er dachte, dass die Farben und Proportionen es zum schönsten Zimmer machten, das er jemals gesehen hatte. »Ich weiß, was Sie denken, Lev«, sagte Lydia.
Larissa kam aus der Küche und schüttelte Lev die Hand. Sie war eine dunkle, anmutige Frau mit wildem, oben auf dem Kopf zusammengerafftem Haar und Augen, so groß wie die der griechischen Filmschauspielerin, deren Namen Lev nie behalten konnte. Lev küsste ihr in einer altmodischen Geste, die er eigentlich nicht beabsichtigt hatte, die Hand und kam sich dumm und linkisch vor, als sie sie ihm entzog, aber er sah, dass sie nicht irritiert, sondern nur amüsiert war. »Herzlich willkommen«, sagte sie. »Lydia hat mir alles von Ihrer Reise erzählt und dass sie ihr wegen der vielen Gespräche ganz kurz vorkam.«
»Ja?«, sagte Lev.
»Ja. Tom und ich haben das Gefühl, wir wissen alles über Sie. So, und nun kommen Sie und setzen Sie sich. Hat Lydia Ihnen von ihrer Stelle erzählt?«
»Nein«, sagte Lev.
»Oh, erzähl es ihm, Lydia!«, sagte Larissa.
Und Lev sah, wie Lydia rot wurde und die roten Blumen auf ihrem Kleid glatt zu streichen begann, als bereite sie sich auf ihren Auftritt bei einer vornehmen Soiree vor.
»Na ja«, sagte sie, »ich habe einfach Glück gehabt, Lev, weil Larissa und Tom den bekannten Dirigenten Pjotr Greszler aus unserem Land kennen, der erst seit kurzem hier ist, um mit dem London Philharmonic Orchestra zu proben, und als ich ankam, konnte ich gleich meine Stellung antreten. Pjotr ist nämlich ziemlich alt, und sein Englisch ist sehr schlecht, und deshalb übersetze ich zwischen ihm und dem Orchester. Ich sage den Musikern alles, was Pjotr sagt, und alles, was sie sagen, erkläre ich ihm. Ich bin den ganzen Tag dort, gebe Anweisungen undhöre der Musik zu. Eine so schöne Arbeit hätte ich mir niemals träumen lassen.«
Lydia küsste Larissa auf die Wange, und Larissa sagte lächelnd: »Wir freuen uns so für dich, Lydia. Wir sind überglücklich.« Und dann wandte sie sich an Lev und sagte: »Pjotr hat mich gleich nach Lydias erstem Arbeitstag angerufen, und er war begeistert von ihr. Er sagte, sie sei eine sehr, sehr feinfühlige Übersetzerin musikalischer Stimmungen und er sei wirklich froh, sie im Probenraum bei sich zu haben. Ist das nicht phantastisch?«
»Es ist nur so«, sagte Lydia, »dass ich leider noch keine Zeit hatte, mich nach einer
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