Der weite Weg nach Hause
die Fische waren klein − nach Karpfen sahen sie nicht aus: Sie sahen aus wie exotische Geschöpfe, die in ein Aquarium gehörten, und obwohl einige von ihnen jetzt sehr nahe an Lev und Rudi heranschwammen, mochte keiner der beiden nach ihnen greifen.
Nach ein paar Minuten fruchtlosen Starrens watete Rudi an Land und schaltete die Scheinwerfer vom Tschewi aus, um zu schauen, was passieren würde, und was passierte, war, dass die blauen Fische im Dunkeln wie träge flackernde Gasflammen weiter leuchteten und das ganze Wasser um sie herum illuminierten, und Lev dachte, dass er noch nie so etwas Seltsames und Erstaunliches gesehen hatte. Er streckte die Hand aus und versuchte, einen der Fische zu packen, aber der Fisch sprang, wie eine Sternschnuppe, in einem leuchtenden Bogen einfach aus dem Wasser, und jetzt fingen zehn oder zwanzig Fische an zu springen und bildeten dabei eine Neonfontäne, die nach einer Weile abflaute, und das Blau wurde blasser und blasser, bis Lev und Rudi schließlich nur noch die schwarze Oberfläche des Sees vor sich hatten.
Sie saßen am heruntergebrannten Feuer und trockneten ihre Füße. Beide fragten sich, ob das eine Art Vision oder ein Wachtraum gewesen war, doch nach einer Weile sagte Rudi: »Das war echt, diese Farbe. Hier stimmt irgendwas nicht. Strahlung von irgendwo her. Ich schätze, diese Fische sind kontaminiert.«
»Na ja«, sagte Lev, »zum Verkaufen sind sie doch sowieso zu klein.«
»Nichts ist zu klein zum Verkaufen«, sagte Rudi, und Lev stimmte ihm zu. Auf dem Yarbler Markt konnte man Haarnadelnverkaufen, und man konnte Kiefernzapfen verkaufen. Und so saßen sie da und betrachteten die aufgereihten Eimer und dachten sich lauter Namen für diese kleinen Fische aus, wie zum Beispiel »Süßwassersardinen« oder »Blaue Essel-Gräulinge«, doch dann fielen ihnen die Klöße ein, die sie in dem verstrahlten Seewasser gekocht und anschließend gegessen hatten, und sie grübelten, ob sie schon den Keim für Krankheit oder Tod in sich trugen, also leerten sie schweigend die Eimer, stapelten sie wieder im Auto und fuhren nach Hause.
Seitdem fürchtete Lev manchmal, dass er vielleicht schon langsam starb, ohne viel davon zu merken, weil er am Ufer des Esselsees gekochte Klöße gegessen, oder vielleicht nur, weil er zufällig den Körper eines springenden Fischs berührt hatte. Als er jetzt in Kowalskis Hof dasselbe Blau auf den Hortensienblütenblättern sah, kehrte diese Furcht wieder: die eigenartige Furcht, aber auch die wunderschöne Erinnerung, beide ineinander verhakt, wie Boxer im Clinch, die nicht aufgeben wollen.
Die Nacht war kalt − viel kälter als die Nacht davor −, und Lev musste all seine Kleidung aus der Tasche holen und sich damit zudecken, und selbst dann konnte er nur mühsam einschlafen.
»Wenn du nicht schlafen kannst, mein Sohn, mach einen Plan«, hatte sein Vater gern gesagt. »Dann hast du die Stunden wenigstens nicht vergeudet.« Also fasste Lev einen Entschluss. Der Entschluss überraschte ihn, und trotzdem wusste er, dass er vernünftig war: Morgen würde er Lydia anrufen. Sie hatte ihm ihre Hilfe angeboten, und jetzt brauchte er Hilfe, deshalb würde er das Angebot annehmen. So einfach war das. Er würde sie aufsuchen, wo immer sie bei ihren Freunden sein mochte. Er und sie würden gemeinsam alle Stellenanzeigen in der Zeitung lesen, und Lydia würde ihm alles entziffern. Sie würde wissen, was ein Handlanger war. Sie würde die Telefonnummern anrufen, die auf den ESJOBS - Seiten standen, und Vorstellungstermine machen, und bei Einbruch der Nacht hätte er Arbeit.Auch wenn den zukünftigen Englandreisenden in Levs Sprachschule geraten worden war, ein Mobiltelefon zu kaufen, sobald sie es sich leisten konnten, hatte man sie auch darauf vorbereitet, wie man das öffentliche Telefon benutzte, und er hatte die Anweisungen wie ein Gedicht auswendig gelernt:
Heben Sie den Hörer ab.
Werfen Sie eine Münze ein.
Wählen Sie die gewünschte Nummer.
Sprechen Sie.
Es war noch früh am Morgen. Lev hörte, dass ein Mann abnahm, und spürte, wie ihm der Schweiß ausbrach. »Entschuldigung«, sagte er. »Kann ich mit Lydia sprechen?«
»Wer ist da?«, schnauzte die englische Stimme.
»Mein Name ist Lev.«
»Olev?«
»Ja. Lev. Kann ich mit Lydia sprechen?«
Er hörte, wie der Mann ihren Namen rief, und dann kam Lydia an den Apparat.
»Lev?«, fragte sie. »Sind Sie das aus dem Bus?«
Beim Klang seiner eigenen Sprache hätte Lev am liebsten vor
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