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Der weite Weg nach Hause

Der weite Weg nach Hause

Titel: Der weite Weg nach Hause Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rose Tremain
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mit Rudi nachts fischen gegangen war und sie eine der seltsamsten Entdeckungen ihres Lebens gemacht hatten.
    Sie waren mit dem Tschewi zum Esselsee gefahren, einem kalten, stillen See inmitten von Tannen und Fichten, viele Kilometer von Auror entfernt. Dort, so hatte Rudi gehört, könneman Fische mit elektrischem Licht betäuben und sie einfach mit den Händen aus dem Wasser holen. »Das liegt daran«, hatte Rudi zu Lev gesagt, »dass der See so abgelegen ist. Die Scheißfische da haben noch nie künstliches Licht gesehen, deshalb kommen sie, um zu gucken, und dann − zu spät, mein Lieber − sterben sie an Neugier.«
    Der Esselsee war schwer zu finden. Der Tschewi quietschte und grollte, als Rudi die verschiedensten Wege ausprobierte, und die überhängenden Äste der Bäume peitschten das Wagendach, und in den Furchen mit Sand und herabgefallenen Fichtennadeln drehten die Räder durch. Manchmal, wenn der Mond auf den See schien, konnten Lev und Rudi ihn in der Ferne sehen, doch dann hörte der Pfad auf, und sie konnten nirgends wenden, so dass der Tschewi mit heulendem Motor rückwärts fahren musste und Lev zu Rudi sagte, es rieche nach Verbranntem.
    »Verbrannt?«, schnaubte Rudi. »Da brennt verdammt noch mal gar nichts. Das ist Protest! Das ist ein wunderbarer Motor, der dir sagt, dass er es nicht schätzt, wenn er wie ein Kleinlaster behandelt wird. Das ist wie bei einem Rennpferd, das durchdreht, wenn es einen Wagen ziehen soll. Du musst es beherrschen können.«
    Als sie endlich den See fanden, parkte Rudi den Tschewi direkt unten am Strand, in einer sandigen Bucht, so dass die Scheinwerfer auf das Wasser gerichtet waren. »Solche riesigen Lampen haben die Fische bestimmt noch nie gesehen«, sagte Rudi. »Jeder einzelne Scheißer in diesem Wasser wird hergeschwommen kommen.« Rückbank und Kofferraum des Wagens waren mit Plastikeimern vollgepackt, und der Plan sah vor, dass sie sie mit lebenden Fischen füllen, nach Yarbl fahren und dort auf dem Samstagmorgenmarkt alle verkaufen würden. Lebender Fisch verkaufte sich immer besser als toter, dem Gerücht nach sollte es sich um Karpfen handeln − eine Delikatesse in dieser Gegend. Rudi sagte: »Selbst wenn es keine Karpfen sind,werden wir sie Karpfen nennen, außer es sind Scheißaale. Dann, fürchte ich, müssen wir sie Aale nennen.«
    Lev und Rudi stiegen aus und betrachteten den Mondschein auf dem Wasser und horchten auf die nächtlichen Geräusche und die kleinen Wellen, die sich am Ufer brachen. Dann machten sie ein Feuer, setzten sich dazu, tranken Wodka und rauchten und garten Inas Klöße in einem schwarzen Schmortopf, den sie an einen gebogenen Ast gehängt hatten. Es war eine Sommernacht, und Motten schwebten zum Feuer, und der Mond verschwand hinter den Tannen, während Lev und Rudi die Klöße aßen, die mehlig und köstlich waren. Nun, da ihre Bäuche gefüllt waren und der Wodka und die Zigaretten ihre Sinne besänftigten, war es verlockend, einfach sitzen zu bleiben und über Gott und die Welt zu reden und das Karpfenfangen sein zu lassen. Nur der Gedanke an das Geld, das sie in Yarbl verdienen könnten, ließ sie wieder zu ihrer nächtlichen Mission zurückkehren.
    Sie füllten die Eimer mit Seewasser und stellten sie vor den sich brechenden Wellen in einer Linie auf. Dann schalteten sie die Scheinwerfer an. Sie zogen ihre Schuhe aus und rollten ihre Hosen auf und stellten sich bis zu den Knien in das eiskalte Wasser, hielten die Köpfe gesenkt und warteten darauf, dass die Karpfen in die grellen Scheinwerferstrahlen schwammen.
    »Gut, dass der Mond untergegangen ist«, flüsterte Rudi, »das hätte sie sonst vielleicht verwirrt. Fische sind nicht besonders intelligent.«
    Eine Zeitlang geschah gar nichts. Dann sahen sie mit einem Mal eigenartige Blitze und schimmernde blaue Lichter unter Wasser. Sie kamen und gingen und kamen wieder, und Lev und Rudi starrten gebannt darauf. »Was ist das, verdammt?«, sagte Rudi. »Ist der See voll mit Außerirdischen? Kommt deswegen niemand hierher?«
    Doch Lev erkannte schnell, was es war: Es waren die Fische. Wenn das Licht auf einen von ihnen traf, leuchtete sein Körper neonblau.
    »Scheiße!«, sagte Rudi. »Wieso blau?«
    »Vielleicht sind das russische Fische«, sagte Lev. »Schwule russische Fische.«
    »Blau« war das Wort, das die Russen benutzten, um schwule Männer zu bezeichnen, und Rudi kicherte, aber jetzt hatten beide das Gefühl, irgendetwas sei beunruhigend an diesem blauen Anblick. Und

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