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Der weite Weg nach Hause

Der weite Weg nach Hause

Titel: Der weite Weg nach Hause Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rose Tremain
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Taschenbücher, Briefe und Tabletten stapelten. Abgesehen vom Bett und dem Nachttisch war das Zimmer leer. Vor dem Fenster hing statt eines Vorhangs eine Decke.
    Er ging zurück ins Wohnzimmer. Sehnsüchtig starrte er auf das Telefon. Eine Weile versuchte er seiner Sehnsucht zu widerstehen, aber sie wollte nicht verschwinden, also zog er − ohne irgendeine Vorstellung, was ein Anruf in sein Land kosten mochte − ein paar Münzen aus der Tasche und legte sie neben das Telefon. Dann nahm er den Hörer ab und wählte Rudis Nummer. Als er Rudis vertraute knurrige Stimme hörte, wurde ihm warm ums Herz.
    »He!«, brüllte Rudi. »Ich vermisse dich! Alle vermissen dich. Was ist denn drüben so los? Kommst du demnächst zurück?«
    Lev lachte. Er erzählte Rudi, dass er Arbeit in einer Küche gefunden habe, dass er in einem Kinderzimmer wohne, dass die Menschen in London fetter seien, als er sich vorgestellt habe.
    »Fett?«, sagte Rudi. »Na und? Wirf den Leuten nicht vor, dass sie fett sind, Lev. Wenn wir hier besseres Essen hätten, wäre ich gerne fett. Ich würde meinen dicken Bauch spazieren führen. Und wenn Lora einen dicken Arsch kriegen würde, wäre es mir egal. Ich würde ihn an mein Gesicht drücken und küssen.«
    »Ja, okay«, sagte Lev, »aber ich habe mir nicht vorgestellt, dass die Menschen so aussehen. Ich hatte gedacht, sie würden wie Alec Guinness in Die Brücke am Kwai aussehen.«
    »Der Film wurde doch damals im Kalten Krieg gedreht, Lev. Er wurde sogar vor dem verdammten Kalten Krieg gedreht. Du kennst dich wirklich überhaupt nicht aus.«
    »Du aber auch nicht«, sagte Lev. »Du hast ausgerechnet, ich könnte von zwanzig Pfund in der Woche leben. Schon das Zimmer kostet neunzig.«
    »Neunzig Pfund? Du wirst betrogen, mein Freund.«
    »Nein«, sagte Lev. »Ich habe ungefähr dreißig Zimmer aus der Zeitung rausgesucht. ES -Zeitung. Dies war das billigste.«
    Rudi schwieg. Für einen Moment unterbrach Lev das Schweigen nicht, dann fragte er nach Maya und seiner Mutter. Rudi erwiderte: »Mit ihnen ist alles in Ordnung, Lev. Es geht ihnen gut. Nur eine Ziege ist verschwunden. Ina glaubt, dass irgendein Scheißtyp sie direkt aus dem Stall gestohlen hat. Sie meint, er holt sie alle, eine nach der anderen, jetzt, wo du nicht da bist.«
    Nun war es Lev, der nicht wusste, was er sagen sollte. Und plötzlich musste er daran denken, wie anmutig die Ziegen immer ihr staubiges Gehege umrundeten.
    »Sag Ina, sie soll sie nachts ins Haus nehmen«, sagte er.
    »Und wohin damit?« sagte Rudi.
    »Irgendwohin. In die Küche.«
    »Und dann scheißen sie den ganzen Boden voll, und dieser Bastard bricht ins Haus ein und schnappt sie sich. Willst du das?«
    »Sag Ina, sie soll die Tür doppelt verriegeln.«
    »Klar. Sage ich ihr, Lev. Aber weißt du, dass sie dauernd zu mir sagt: ›Warum ist mein Sohn weggegangen, Rudi? Erklär mir, warum Lev weggegangen ist.‹«
    »Sie weiß doch, warum ich weggegangen bin. Ihr alle wisst das, also quäl mich nicht damit, Rudi. Ende nächster Woche kommt mein erstes Geld. Dann wird Ina froh sein.«
    »Okay, okay. Das sage ich ihr. Ende nächster Woche: froh.«
    Lev wechselte das Thema. Er fragte nach dem Taxi-Geschäft, und Rudi antwortete: »Na ja, hat sich nichts geändert, seit du weg bist. Wie du weißt, nehmen die Leute nicht mehr das Rad, jetzt, wo sie wissen, dass es den Tschewi gibt. Sie wollen stilvoll in meiner Lederpolsterung chauffiert werden. Aber mir ist jetzt was aufgefallen: Die nutzen die Scheißpolsterung ab! Die rutschen mit ihrem Hintern drauf rum. Wahrscheinlich gefällt ihnen das Gefühl, wenn ihr Hintern so rumrutscht, aber das tut meiner Innenausstattung verdammt noch mal nicht gut.«
    »Wenn sich nur das Polster abnutzt«, sagte Lev. »Damit kannst du doch leben.«
    »Schon. Ich kann damit leben, aber es macht mich wahnsinnig.«
    »Besser, als wenn am Motor was kaputtgeht.«
    »Gut erkannt, mein Freund. Du bist heute richtig helle, merke ich. Aber vielleicht kannst du mir ja jetzt Autoteile aus London schicken?«
    »Ja«, sagte Lev. »Wenn ich erst mal Fuß gefasst habe. Wenn ich mich zurechtgefunden habe ...«
    »Bist du einsam?«, sagte Rudi.
    »Ja«, sagte Lev.
    Wieder verfielen sie in Schweigen, und währenddessen stellte Lev sich Rudi in seinem Flur vor, wo er auf einer Mahagonikommode sein Taxi-Fahrtenbuch aufbewahrte und wo eine alte Kuckucksuhr regelmäßig einen kaputten Holzvogel ausspuckte, der Tag und Nacht jede einzelne Stunde

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