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Der weite Weg nach Hause

Der weite Weg nach Hause

Titel: Der weite Weg nach Hause Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rose Tremain
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Anruf« ertönen.
    Ganz benommen von seiner tiefen Beschämung stand Lev auf. Ohne Lydia anzuschauen, drängte er sich an 14 oder 15 wütenden Konzertbesuchern vorbei, rannte die Treppe hinunter und aus dem Saal. Er rannte weiter. Er fand den nächsten Ausgang und trat hinaus in die Nacht.

7
Die Eidechsentätowierung
    Christy bügelte gerade, als Lev nach Hause in die Belisha Road kam. Er hatte eine Cola vor sich. Da er demnächst vor Gericht erscheinen musste, trank er seit einer Woche keinen Alkohol mehr. Die stille Wohnung roch nach versengtem Stoff, ein bisschen wie Toast.
    »Schade, dass du die Musik verpasst hast«, sagte Christy und faltete einen verblichenen Kissenbezug.
    Lev hatte sich ein Schinkenbrot gemacht. Er aß es langsam und nachdenklich. Das Schuldgefühl gegenüber Lydia wegen seiner Flucht war inzwischen zu Wut geworden. »Ich gehöre nicht in solche Orte«, sagte er. »Muswell Hill. Festival Hall. Das ist nicht meine Welt. Ich arbeite in Küche. Ich hätte Lydia sagen sollen, das ist falsch, das ist Scheiße !«
    »Aha«, sagte Christy. »Wenn du mich fragst, ist Scheiße nur ein anderes Wort für das ganze Debakel! Ich sage immer, dass die Menschheit zu neunzig Prozent Dreck ist, der nicht am richtigen Ort entsorgt wird. Darum bin ich auch Klempner geworden. Jemand muss sich doch darum kümmern, dass alles ins Meer gespült wird.«
    Lev hatte sein Handy schließlich in einer Innentasche seiner Lederjacke gefunden, an deren Vorhandensein er sich gar nicht erinnern konnte. Jetzt legte er das Telefon auf den Tisch und sah es böse an. Er wusste, bald würde es klingeln, und es würde Lydia sein.
    »Ich kann ihr sagen, dass du krank bist«, schlug Christy vor. »Ich kann sagen, du hast eine Lebensmittelvergiftung.«
    »Ja?«
    »Klar kann ich das. Ich kann sagen, du hast auf dem Wegzum Konzertsaal ein tödliches Krabbenbrötchen gegessen − deshalb musstest du rausrennen.«
    »Okay«, sagte Lev. »Du sagst ihr das. Dann, in paar Tagen, werde ich sie anrufen.«
    »Gut«, sagte Christy. »Aber die eigentliche Frage lautet doch: Wer hat dich angerufen, Lev?«
    »Mich angerufen?«
    »In dem kritischen Augenblick − als du die hübsche kleine Karussell-Melodie gehört hast.«
    »Oh«, sagte Lev. »Ich weiß nicht.«
    Christy setzte das Bügeleisen ab und nahm Levs Telefon. Er zeigte Lev die Nummer, die als unbeantworteter Anruf abgespeichert war. »Wessen Nummer ist das?«
    Lev starrte sie an. Es war weder Damians noch Rudis.
    »Könnte jemand in Bangladesch sein, der dir eine Doppelverglasung verkaufen möchte«, sagte Christy. »Oder könnte es etwa der gute GK höchstpersönlich sein, der dich zu einem sonntäglichen Resteessen einlädt? Aber da liege ich, glaube ich, sehr weit daneben. Ruf doch einfach die Nummer an, dann weißt du Bescheid.«
    Lev zündete sich eine Zigarette an. Er sah, dass es neun Uhr vierzig war. Er stellte sich vor, dass Lydia gerade aus der Festival Hall in die kalte Nacht hinaustrat und sich auf den Weg zur Waterloo Station machte.
    »Soll ich anrufen?«, sagte er zu Christy.
    »Ja«, sagte Christy, »ruf an.«
    Lev drückte die Rückruftaste und wartete. Das Telefon klingelte sechsmal, dann schaltete sich eine Stimme ein und sagte:
    Hallo, Sie haben Sophies Nummer gewählt. Ich bin entweder auf der Arbeit oder unterwegs und lasse mich vollaufen. Bitte hinterlassen Sie eine Nachricht, und ich melde mich bei Ihnen, sobald ich wieder dazu in der Lage bin.
    Am Montagabend hatte das GK Ashe »Diät-Betrieb«, wie Damian es nannte. Schon gegen Viertel vor elf konnte die Küche schließen, die Gäste hatten gezahlt und waren gegangen, und GK Ashe verkündete seinen Angestellten, es werde Tomaten-Gorgonzola-Crostini als »Mitternachtsschlemmerei« geben.
    Lev war noch längst nicht fertig mit seiner Arbeit, als Jeb den üblichen Tisch im hinteren Teil des Restaurants deckte, deshalb schrubbte und spülte er weiter, als die anderen dort Platz nahmen. Er sah zu, wie Ashe seine Crostini unter einen Grill packte, und der Geruch vom Blasen schlagenden Käse weckte in ihm einen wunderbaren Hunger, den unschuldigen Hunger eines Kindes.
    GK trug die fertigen Crostini hinaus, und Lev sah, wie Mario Bierflaschen öffnete. In diesem Augenblick erschien Lev die Kombination von heißem Käse und kaltem Bier als die denkbar köstlichste Erfindung des menschlichen Hirns. Er sah, wie die anderen zu essen begannen. Auch sie schienen den Hunger von Kindern zu haben. Er hörte, wie sie das

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