Der weite Weg nach Hause
damit beschäftigt war, sagte sie plötzlich: »Ich habe dich neulich Nacht angerufen. Damian hat mir gesagt, dass du in Tufnell Park wohnst. Ich gehe dort manchmal mit meiner Freundin Samantha in ein Pub: Sam Diaz-Morant. Sie ist in der Modebranche. Wir dachten, es wäre lustig, dir einen auszugeben.«
»Ja?«, sagte Lev.
»Du wärst aber sowieso nicht gekommen, oder?«
»Ich weiß nicht ...«, sagte Lev.
»Du bleibst eher für dich. Und übrigens, ich bewundere das. Die meisten Männer sind solche verdammten Huren.«
Das verstand Lev nicht. Er zuckte die Achseln. Dann sagte er: »Ich weiß, dass du angerufen hast. Ich war in Festival Hall.«
»Echt? Da warst du? Was hast du denn da gemacht?«
»Elgar. Kennst du den?«
»Klar. ›Land of Hope and Glory‹. Das ganze Zeug.«
“Ja? Ich kannte ihn nicht. Weißt du, er fing sehr arm an, mit Vater in kleinem, armem Laden, der Noten verkauft?«
»Wirklich?«
»Ja. Sehr arm.«
»Echt? Toll! Jetzt ist er auf dem Zwanzigpfundschein!«
»Das ist Elgar?«
»Genau!«
»Das ist ein Geschäftsmann. Nein?«
Sophie wühlte in ihrer Manteltasche und zog ein billiges Plastikportemonnaie heraus. Sie entnahm ihm einen Zwanzigpfundschein, ging damit zu Lev und zeigte auf den Namen, Sir Edward Elgar 1857−1934.
Er erkannte das Gesicht, das er im Reisebus studiert hatte, die unbewegte Miene eines Bankiers und die vielen Strahlen, die ihn beschienen. Er lächelte. Auf seinen Wischmopp gestützt, erzählte er Sophie, wie er das Gesicht von Elgar auf seiner Fahrt nach England studiert hatte und dann beinah sein großes Cellokonzert gehört hätte, aber in letzter Minute daran gehindert worden war.
»Was hat dich denn gehindert?«, fragte Sophie.
»Du«, sagte Lev.
»Ich?«
»Wir warten auf Elgar, als mein Handy klingelt. Ich bin einziger Mann mit Klingel-Handy. Und anrufst du.«
Sophie schüttelte den Kopf und lachte, und ihre rostroten Locken glänzten im hellen Küchenlicht. »Scheiße«, sagte sie. »Hätte nie gedacht, dass du in einem noblen Konzert bist. Hätte gedacht, du sitzt irgendwo einsam in einem Zimmer. So vertue ich mich häufig.«
Lev schaute auf Sophies weiche Arme und die Eidechsentätowierung. Und er dachte, wie gern er, nur für einen Moment, diese Arme streicheln oder seinen Kopf in sie legen würde. Er fing erneut an zu wischen, während Sophie mit den Müllsäcken raus und wieder rein lief und ein Schwall kalter Luft in die noch warme Küche drang.
Als Lev fertig war, bot er Sophie eine Zigarette an, und − unter Missachtung von GKs Gesetzen − nahm sie eine, und beide standen vor der zwei Komma fünf Meter langen Abtropffläche aus Stahl und rauchten.
»Und?«, sagte Sophie. »Hast du Lust, was trinken zu gehen?«
»Ja?«, sagte Lev.
»Du klingst nicht sehr überzeugt. Aber ich mach dir keinen Vorwurf. Sam und ich können leicht ein bisschen aus dem Ruder laufen. Trinken die Menschen in deinem Land?«
»Ja«, sagte Lev. »Woditschka.«
»Ist das so was wie Wodka?«
»Es ist Wodka. Es meint ›kleiner lieber Wodka‹.«
»Aha. Also wir trinken ›kleinen lieben Gin Tonic‹ oder ›kleines liebes Stella-Bier‹ mit einem Rum oder Whisky dazu. Einmal haben wir auch Absinth probiert, aber ich kann dir sagen, das bringt dich um den Verstand, und uns war sauschlecht.«
»Warum trinkt ihr?«
»Warum wir trinken? Tja, warum trinken Menschen? Einfach, weil die Welt dann anders aussieht. Verstehst du das?«
»Ja.«
»Die meisten Sonntage arbeite ich in einem Pflegeheim für ältere Menschen. Von zehn bis sechs. Danach muss man was trinken. Es bringt nichts, bei alten Leuten empfindlich zu sein. Aber sie sind auch lustig. Eigentlich mag ich sie. Weißt du, was ihr Lieblingsspiel ist?«
»Ja?«
»Über andere herziehen.«
»Herziehen?«
»Genau. Über Leute herziehen: sie kritisieren. Sie sagen: ›Ich habe den und den nie leiden können.‹ Den Schwiegersohn meinetwegen. Dann die Steigerung: ›Er ist so eine Drecksau. Er kann überhaupt nicht fahren. Er schickt beschissene Weihnachtsgeschenke. Er färbt sein Haar ...‹ Verstehst du? Es geht immer so weiter. ›Er ist zu blöd für ein Geschirrtuch. Er trägt weiße Socken zu schwarzen Schuhen. Er hat den Vogelfutternapf kaputtgemacht.‹ Das kann sehr komisch werden. Ich sage: ›Also, heute beim Tee ziehen wir alle über jemanden her. Mal sehen, wer der Gemeinste ist.‹ Und sie johlen vor Vergnügen. Kein Scheiß.«
»Ja?«
»Hass hält die Menschen lebendig. Der alte Douglas
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