Der weite Weg nach Hause
sein Etagenbett, trank den Tee und starrte auf das Puppenhaus und den Kaufladen und die Plüschspielsachen auf der Fensterbank. Darunter war auch ein Clown. Lev nahm ihn herunter und betrachtete sein bemaltes Lumpengesicht und seinen hohen Filzhut. Sein Körper fühlte sich flauschig und weich an, und Lev konnte sich vorstellen, dass er Maya sehr gefallen würde.
Lev sah auf die Uhr. Plötzlich hatte er das verzweifelte Bedürfnis, Rudi anzurufen − um zu hören, wie es Maya ging −, und nach einigen Minuten des Zögerns, in denen er sich ausmalte, wie Rudi friedlich neben Lora schnarchte, nahm er sein Telefon heraus und wählte Rudis Nummer. Es wurde sofort abgenommen.
»Hallo, Lev«, knurrte Rudi. »Schön, deine Stimme zu hören, Kamerad. Nein, du hast mich nicht aufgeweckt. Kann sowieso nicht schlafen, verdammt. Wie läuft’s denn so?«
»Okay«, sagte Lev. »Gut. Meine Arbeit entwickelt sich ziemlich gut. Hat Ina das Geld bekommen, das ich geschickt habe?«
»Ja, klar. Ich habe sie letzten Montag nach Baryn mitgenommen, und wir haben ihr einen neuen Gasofen für den Schuppen gekauft, wo sie ihren Schmuck macht. Dann kann sie da auch arbeiten, wenn der Schnee kommt.«
»Das ist gut. Hier schneit es gerade. Und Maya?«
»Ihr geht es gut. Nächsten Samstag gehen wir mit ihr auf den Jahrmarkt, aber ich habe Probleme mit dem Scheißtschewi. Deshalb kann ich nicht schlafen.«
»Was denn für Probleme?«
»Treibriemen in der Automatik.«
»Ja?«
»Er kriecht verdammt noch mal.«
»Kriecht?«
»Ja. Ich will zum Beispiel aus einer Parklücke, schalte also auf ›fahren‹, um ihn ein Stück vorwärts zu bewegen, dann gehe ich auf ›rückwärts‹ und ich denke, er gehorcht mir und fährt hübsch langsam rückwärts, aber das tut er nicht: Er kriecht vorwärts, bevor er kapiert, in welchem Scheißgang er ist. Dann ruckt er rückwärts wie ein Scheißkänguru.«
»Und was kann man da machen?«
»Neue Treibriemen einbauen. Nur dass ich die nirgends kriege.«
»Und nun?«
»Wenn ich die verdammte Lösung wüsste, wäre ich bei deinem Anruf nicht wach gewesen, Lev. Und nun? Weiter nach Treibriemen suchen vermutlich. Oder ich besteche jemanden, dass er sie mir macht. Mehr kann ich nicht tun. Aber es bringt mich um, wenn der Tschewi krank ist. Ich liebe das Auto wie meine eigene Leber.«
»Das weiß ich.«
»Und er ist meine Lebensgrundlage. Aber inzwischen habe ich mir mit Lora was Neues ausgedacht: Horoskope.«
»Horoskope?«
»Genau. Alle interessieren sich plötzlich für Astrologie. Früher wusste kein Mensch, was das ist, aber jetzt reißen sie sich darum wie die Schweine ums Futter. Man muss ihnen einfach nur den Futtertrog füllen.«
»Aber womit willst du denn den Trog füllen?«
»Hab mir ein paar Astrologiebücher aus der Bibliothek geholt. Lora büffelt die jetzt. Sie hat eine gute Auffassungsgabe. Dann werden wir Anzeigen für Horoskope schalten. Die Leute schicken ihre Geburtsdaten zusammen mit Bargeld, und wir liefern ihnen persönliche Vorhersagen für ihre nächste Zukunft. Vier oder fünf Euro pro Stück.«
»Verstehe. Aber was, wenn die nächste Zukunft dann nicht so ist, wie ihr vorhersagt?«
»Sie wird aber so sein, wie wir vorhersagen. Der Trick bei derAstrologie ist, dass man alles in so allgemeine Begriffe packt, dass es hinterher immer passt. Aber wir müssen uns beeilen, damit kein anderer Scheißer vorher dieselbe Idee hat.«
Lev lächelte. »Ich würde gern meine Zukunft erfahren«, sagte er leise.
»Wirklich?«, sagte Rudi. »Wieso denn? Ist was passiert? Du klingst so anders.«
Lev schwieg. Er blickte zu dem Clown, der auf dem Boden lag, die weichen Glieder wie in einer Geste der Unterwerfung von sich gestreckt. »Nein«, sagte er, »nichts ist passiert. Erzähl mir noch was von Maya.«
Lev hörte, wie Rudis kaputter Kuckuck drei Uhr krächzte. Rudi hustete und sagte dann: »Es ist alles okay mit ihr, Lev. Keine gestohlenen Ziegen mehr. Ach ja, sie hat noch einen Zahn verloren. Ich habe ihr gesagt, sie sieht aus wie ein Vampir. Da sagt sie: ›Was ist ein Vampir?‹, aber das wusste ich verdammt noch mal nicht mehr. Mein Kopf wollte sich nicht erinnern. Ich sagte, wir würden vielleicht einen auf dem Jahrmarkt sehen, aber jetzt weiß ich nicht, ob wir überhaupt auf den Jahrmarkt kommen.«
»Sag ihr, sie soll mir was schreiben oder ein Bild schicken.«
»Okay. Was soll denn auf dem Bild drauf sein?«
»Weiß nicht. Vielleicht das Haus. Sie malt gern Häuser. Oder
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