Der weite Weg nach Hause
sagt zu mir: ›Ich weigere mich, vor meiner Schwester zu sterben. Sie hat 75 Jahre auf mich herabgesehen. Jetzt will ich auf sie hinabsehen − auf ihr Grab.‹ Und der ist noch gut beieinander. Er überlegt sich lauter Methoden, wie er sie umbringen könnte. Eine davon ging so: Er bricht bei ihr zu Hause ein und holt ihre Vorhangschienen runter und füllt sie mit Garnelen und hängt sie wieder ein.«
»Garnelen?«
»Ja. Was GK ›Crevetten‹ nennt − nur weil er mal Urlaub in Frankreich gemacht hat. Wartet, dass sie unter dem Gestankleidet. Wird sie wahnsinnig machen, weil sie nicht herausfindet, woher er kommt. Weil sie eine absolut pingelige Hausfrau ist, sagt jedenfalls Douglas. Bei ihr in der Wohnung riecht alles nach irgendeiner Scheißpolitur. Staubt die Glühbirnen ab! Und die Vorstellung, dass sie von dem Garnelengestank aus ihrem Haus vertrieben wird, macht Douglas echt Vergnügen. Und ich kann das verstehen. Ich hatte letztes Jahr einen Freund, den ich am liebsten umgebracht hätte.«
»Du wolltest umbringen?«
»Genau. Ist es dir noch nie so gegangen?«
Lev musste daran denken, wie gern er dem Prokurator Rivas ein Messer ins Herz gestoßen hätte und wie er auf seinem traurigen Lager auf dem Boden wach gelegen und sich diese Szene ausgemalt hatte, in der Marina schrie und Rivas sich an die tödliche Wunde fasste und rückwärts in seinen Stuhl sank, die polternden Beamtenfüße in die Luft gestreckt. Lev nahm ein Tuch und begann, sanft den Rand der Abtropffläche zu polieren. »Vielleicht ...«, sagte er.
»Ich ja«, fuhr Sophie fort. »Das ist kein Witz. Er war Sportlehrer, mein Freund. Fit wie ein Turnschuh. Wie ein Olympionike. Gab aber dauernd mit seiner Wahnsinnskondition an. Dieser Wichser! Er konnte aus dem Stand einen Rückwärtssalto machen. Das war seine Partynummer. Und alle riefen dann: ›Ooh, aah, mein Gott, wie toll !‹ Aber irgendwann hat man die Nase voll von jemand, der Rückwärtssaltos macht. Ich jedenfalls. Irgendwann wünschte ich mir, er würde sich beim nächsten Rückwärtssalto den verdammten Hals brechen. Aber das hat er nie. Ich würde gern einen Feuerwehrmann heiraten. Einen, der mal was Unspektakuläres macht. Verstehst du das?«
Lev starrte Sophie an und versuchte zu ergründen, was sie da sagte. Sie hatte ein breites Gesicht mit Grübchen und große Brüste, und ihre Beine sahen stämmig und kräftig aus. An ihr war nichts, das in irgendeiner Weise an Marina erinnerte. Aber dieses Anderssein, diese Neue in der Form , faszinierte ihn. Esmachte sie exotisch, wie einen weit entfernten, sonnenbeschienenen Ort, der nach Zucker duftete. Und er überlegte, wie es wohl wäre, wenn er diesen Ort aufsuchte und die süße Luft atmete.
»Was guckst du so?«, fragte Sophie und starrte zurück.
»Entschuldigung«, sagte er. »Nur Tätowierung geguckt. Tut diese dir weh?«
»Nein«, sagte Sophie. »Das ist nur meine Eidechse. Heißt Lenny. Hab ich mir vor zwei Jahren machen lassen. Im Pflegeheim kennen ihn alle. Sie fragen: ›Wie geht es Lenny heute, Liebes?‹ Und ich sage: ›Oh, Lenny geht’s gut. Wenn Sie Ihr Butterbrot aufessen, wird er Ihnen einen kleinen Nasenstüber geben.‹ Manchmal bin ich schrecklich kindisch und verrückt.«
Lev lächelte. »Für mich nicht verrückt«, sagte er.
»Doch, das bin ich«, sagte Sophie. »Ich liebe Lenny. Im Bett lege ich manchmal meinen Arm übers Gesicht, genau so, und Lenny schaut mich an, und wir unterhalten uns im Dunkeln.«
Lev knipste alle Lichter aus, und sie standen einen Moment lang an der Tür und horchten auf das Summen der Kühlschränke in der Dunkelheit. Dann traten sie hinaus auf die Straße, wo ein leichter Schneefall eingesetzt hatte. Sophie wickelte sich ihren Fußballschal um den Kopf. Lev schlug seinen Kragen hoch. Er fragte sich, wo er wohl einen bezahlbaren Wintermantel finden würde.
Sophie schloss ihr Fahrrad auf und rollte die Kette zusammen. »Also dann, Nacht«, sagte sie. »Bis morgen.«
»Ja«, sagte Lev. »Bis morgen.«
Er sah ihr nach, wie sie durch den fallenden Schnee die leere Straße entlangradelte. Dann machte er sich auf den Weg zu seiner Nachtbushaltestelle, wo er sich auf dem Brettersitz niederließ und rauchte und sich die Hände an den Knien rieb, um sie zu wärmen.
Als er in der Belisha Road ankam, war im Wohnzimmer noch Licht, aber Christy schlief. Es war spät, doch Lev war hellwach und unruhig. Er machte sich eine Tasse Tee und nahm sie mit in sein Zimmer und setzte sich auf
Weitere Kostenlose Bücher