Der weite Weg nach Hause
nach Angelas Liebhaber, dem Besitzer des Dachgeschosses, fragte, der Tony Myerson-Hill hieß, sagte Christy: »Je weniger ich von dem höre, desto besser geht es mir. Seine Möbel sind hässlich: große schwarze Ledersofas, Stahlrohrtische. Und alles muss am richtigen Platz stehen, oder er kriegt einen epileptischen Anfall. Wie der mit einer Fünfjährigen zurechtkommen will, ist mir schleierhaft. Und die Dusche ist vielleicht seltsam. Ein Riesending zum Reinspazieren, mit grauem Granit verkleidet, aber ohne Tür. Kein privater Bereich. Was ist denn das für eine Inneneinrichtung? Der Mann ist ein Fashion Victim allererster Güte.«
Dann erzählte er Lev, dass Frankie einmal, als er sie besuchte habe, den ganzen Nachmittag lang nichts anderes machen wollte, als Steine polieren.
Tony Myerson-Hill hatte eine Poliermaschine für Steine gekauft und gesagt, er werde Frankie zehn Pence für jeden polierten Stein bezahlen. Dann reihte sie die frisch geputzten Steine nebeneinander an den Wänden der Granitdusche auf und sagte, Tony werde sich »ganz doll freuen« und vielleicht am Wochenende mit ihr in den Zoo gehen.
»Hast du gehört?«, fuhr Christy fort. »In den Zoo! Ich habden verdammten Zoo gleich beim ersten Mal vorgeschlagen, als ich da hinging. Entweder hat Frankie es also vergessen, oder sie hat es extra gesagt, um mir wehzutun. Weiß der Himmel. Ich seh mich in dem Scheißglashaus um, und ich seh den riesigen Plasmafernseher und die 797 CDs und DVDs und die drei Computer, und ich bin erledigt. Ich denk an diese Wohnung hier und an den kleinen Kaufladen in deinem Zimmer, mit dem Frankie nie gespielt hat, und ich sehe, dass Myerson-Hill und emissionsarm ausgebaute Dachgeschosse die Zukunft sind, und ich bin die Vergangenheit. Jedenfalls was Frankie angeht, bin ich so ziemlich von gestern.«
Lev wusste kaum, was er dazu sagen sollte. Er musste daran denken, wie sein Vater Stefan einmal gesagt hatte, das Leben habe sich weiterbewegt und ihn zurückgelassen − und dass er recht behalten sollte. Doch das war etwas, das er Christy gegenüber nicht erwähnen durfte. Stattdessen begann er, weil es ihm passend erschien, von einer Reise in die Kalinin-Berge zu erzählen, die er ein Jahr nach Marinas Tod mit Rudi unternommen hatte.
Christy setzte sich in einen der Korbstühle. »Ja, erzähl’s mir, Kumpel«, sagte er erwartungsvoll, als sei er froh, dass er nicht mehr über Frankie reden musste.
Lev erklärte, die Reise sei Rudis Idee gewesen. Rudi hatte gemeint, er, Lev, müsse wandern gehen, um Abstand zu gewinnen, um nicht mehr in der Hängematte zu liegen und zu trauern. Lev hatte gemeint, es gehe ihm gut in der Hängematte, aber Rudi sagte, nein, jetzt sei es Zeit aufzustehen, Zeit, sich einem Test auszusetzen. Und Rudi hatte diesen »Test« auch schon geplant und finanziert, weshalb es sinnlos war, weiter mit ihm zu streiten.
Sie bepackten Rucksäcke mit Vorräten und Schlafsäcken und festen Stiefeln und kauften einige Meter Seil. Keiner der beiden wusste, wie man eine Felswand erklimmt. Rudi sagte, ihr Ziel sei eine Höhle in den niedrigeren Hängen der Kalinin-Bergkette.Wenn sie bis zur Höhle kämen, sei der Zweck erfüllt. Als Lev fragte, was denn der Zweck sei, hatte Rudi geantwortet: »Sich auf irgendetwas einzulassen.«
Sie nahmen sich drei Tage von ihrem Urlaubskonto beim Holzhof. Es war Frühjahr in Baryn und kalt, und das frische Grün an den Lärchen war staubig-blass und mit bloßem Auge kaum zu erkennen. Doch schon beim Aufbruch hatte Lev gespürt, wie ihm das Herz weit wurde. Irgendwohin zu reisen war am Ende doch besser, als auf Inas Hof zu starren, und ihm gefiel die Vorstellung, in den Bergen zu wandern und irgendwo herumzuirren, wo es keine Menschen gab.
Um zu der Höhle zu gelangen, folgten sie dem Fluss Baryn bis zu seiner steinigen Quelle. Einen Weg gab es nicht, nur hier und da einen schmalen Pfad, den Bergziegen getreten hatten. Sie liefen über glitschigen Schiefer und zerzauste Heidebüschel. Vom stetigen Aufstieg brannte Levs Lunge, und er musste häufig stehen bleiben, um wieder zu Atem zu kommen. Während dieser Ruhepausen ließ er den Blick schweifen und sah die Schneegipfel hoch oben und weiter unten die langen, beigefarbenen Narben in den Hängen, wo Tannen und Fichten für die Baryner Mühle gefällt worden waren. Die Luft war feucht und rein und köstlich, ganz anders, als er es aus Auror gewohnt war, und Lev spürte eine innere Gelassenheit, die er gar nicht mehr an sich
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