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Der weite Weg nach Hause

Der weite Weg nach Hause

Titel: Der weite Weg nach Hause Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rose Tremain
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kannte.
    Nach vier Stunden machten Rudi und Lev wieder eine Pause und erfrischten sich mit Loras Proviant: tranken Tee aus einer Thermosflasche und aßen Brot und geräucherten Hering. Sie saßen auf einem moosüberwachsenen Felsblock, rauchten und starrten auf einen einsamen Vogel, der sich immerzu um die eigene Achse drehte und auf eine unsichtbare Beute einhackte. Rudis Plan sah vor, dass sie die Höhle vor Einbruch der Nacht erreichten, ein Feuer machten und dort auf dem Boden schliefen. Damit sie nachts nicht frören, hatte er eine Flasche ukrainischen Brandy mitgebracht.
    »Ukrainischer Brandy«, unterbrach ihn Christy. »Was zum Teufel ist das für ein Zeug?«
    »Wie du denkst, schlechte Qualität«, sagte Lev. »Aber sehr billig. Und in kalter Luft schmeckst du Unterschied nicht.«
    »Okay«, sagte Christy, »ich kapiere.«
    Lev setzte sich Christy gegenüber. Er steckte sich eine Zigarette an. Er erzählte Christy, sie hätten den Felsen unterhalb der Höhle am frühen Nachmittag erreicht, weshalb ihnen noch ein oder zwei Stunden Tageslicht blieben. An der Felswand war eine Eisenleiter angebracht, die etwa dreißig Meter fast senkrecht in die Höhe ging, und am Fuße der Leiter entdeckten sie zwischen Gebüsch und Steinen verrostete Dosen, die einst Leberwurst und Sardinen und Kondensmilch enthalten hatten. Sie untersuchten diese Gegenstände, an denen immer noch verblasste, im Laufe der Zeit verwitterte Etiketten klebten. Dann schauten sie sich die Leiter an. Sie war genauso rostig wie die Büchsen, und an manchen Stellen fehlten die Klammern, mit denen sie im Fels verankert war. Einige Sprossen waren kaputt. Aber weder Lev noch Rudi hatten den ruinösen Zustand kommentiert.
    »Ich werde nie vergessen, wie wir hochgehen«, sagte Lev. »Um mich herum Raum und Luft. Nichts zum Halten. Nur die Leiter, so kaputt. Aber ich sage zu Rudi: ›Ich gehe zuerst, und du bleibst auf dem Boden, bis ich Höhle erreiche.‹ Wenn jemand von uns ist tot, ich möchte, dass ich es bin.
    Also ich klettere. Und mein Rucksack fühlt sich sehr schwer. Schwer wie ein Kind auf meinem Rücken. Und jeden Moment ich denke: Jetzt nimmt mich die Luft, und ich falle, und das ist Ende von mir. Aber weißt du was, Christy? Für die ganze Zeit, wo ich klettere, denke ich nicht an Marina. Ich denke nur, ich will Höhle erreichen. Als ob Höhle aus Gold oder sonst was gemacht ist. Verstehst du?«
    »Also, ich habe nie an Höhlen aus Gold geglaubt«, sagte Christy, »aber ich kann mir denken, wie es dich von allem anderen abgelenkt hat.«
    »Ich immer weiter«, fuhr Lev fort, »meine Arme in Schmerz. Schmerz überall. Wie viele Stufen? Ich weiß nicht. Wir haben nicht gezählt. Aber viele, viele. Ich denke bei mir: Das wird kein Ende.«
    Oberhalb der Leiter, vor der Höhlenöffnung, gab es einen breiten Felsvorsprung, und auch der war übersät mit alten Konservendosen und Plastikflaschen. Lev zog sich hoch und landete, mit dem Gesicht im Müll und völlig außer Atem, auf dem Vorsprung. Dort oben wehte ein starker Wind, und Staub wirbelte vor der Höhlenöffnung auf.
    Lev wollte die Höhle nicht betreten, ehe Rudi oben angekommen war. Er ließ seinen Rucksack fallen und beugte sich kniend über die Leiter ins Leere und sah Rudi hochklettern. Rudi war schwerer als er. Lev hörte, wie das Metall sirrte, konnte fühlen, wie es jedes Mal vibrierte, wenn das Gewicht von Rudis Stiefeln auf einer Stufe landete. Und in dem Augenblick, als Rudi gerade halb oben war, hörte er sich selbst seinem Freund zuflüstern: »Schau nicht nach unten ... schau nicht hinter dich ...«, und plötzlich meinte er zu verstehen, wieso Rudi ihn hierher gebracht hatte und dass das, worauf er sich einzulassen hatte, die Idee der Beharrlichkeit war.
    Zu dem Zeitpunkt, als Rudi und Lev vor der Höhle standen, hatte der Nebel sich aufgelöst. Im Licht der letzten Sonnenstrahlen konnten sie sehen, dass etwas auf dem Höhlenboden lag. Sie krochen heran, und dann hielten sie inne. Dort lag ein kleiner Haufen menschlicher Knochen, umhüllt mit etwas, das nach einer dunkelbraunen, verstaubten Militäruniform aussah. Lev starrte zu der Stelle, wo der Schädel hätte sein sollen, aber da war kein Schädel. Auf der Brust ruhte dort, wo einst die Uniformknöpfe golden geglänzt hatten, eine alte Kalaschnikow. Neben den Knochen lagen auf dem Boden noch mehr leere Dosen und ein metallener Löffel.
    »Gott im Himmel!«, sagte Christy. »Hat die Leiche nicht gestunken?«
    »Nein«, sagte

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