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Der weite Weg nach Hause

Der weite Weg nach Hause

Titel: Der weite Weg nach Hause Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rose Tremain
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Hand, in der er den Zehnpfundschein hielt, rot und rissig war von all den Stunden imSpülwasser. Wie rohes Wurzelgemüse. Und er dachte: Genau so sehen mich diese Leute − als eine Rübe ohne Intelligenz und ohne Stimme.
    »Sie sind nicht einverstanden?«, sagte Andy. »Vermutlich wollen Sie − wie fast alle anderen auch − nur vorgesetzt bekommen, was hübsch und sauber und frisch für Sie aufbereitet worden ist, und nicht zur Kenntnis nehmen, wie jeder von uns den Exkrementehaufen vergrößert?«
    »Nein ...«
    »Da wären Sie nicht allein. Genau so empfinden die meisten Menschen im Westen, auch wenn sie es nicht zugeben. Aber ich möchte sie dazu zwingen, dort hinzusehen, wo sie nicht hinsehen wollen: auf ihre dunkle Seite, denn es gibt eine dunkle Seite − manchmal eine wirklich bedenklich dunkle Seite − in uns allen.«
    »Dunkle Seite?«
    »Richtig. Und eine Sache, die wir uns eingestehen müssen, ist, dass das Zeug, wonach wir uns sehnen, absolut transgressiv sein kann. Wir haben dem ins Auge zu sehen. Und die Leute stimmen mir zu, sonst wäre ich nie mit Peccadilloes rausgekommen. Ich weiß, dass es schockieren wird, aber darum geht es doch. Vermutlich kommen Sie aus einem Kulturkreis, der sich noch nicht bewusst ist, wie notwendig Schocks sind.«
    Lev kannte das Wort »Schock«. Er lächelte mühsam und sagte: »In meinem Land hat es ›Schock‹ gegeben, Sir. Sehr viel Schock. Viele, viele Jahre mit ...«
    »Richtig. Absolut. Ich verstehe. Aber ich rede nicht von politischen Systemen, Lev. Und bitte, nennen Sie mich verflixt noch mal nicht ›Sir‹. Ich rede von Kunst.«
    »Okay ...«
    »In Ihrem Land müssen Sie noch eine Menge aufholen in puncto Kunst. Das ist in Ordnung. Ich verstehe es vollkommen. Mein Mitgefühl. Aber hier in Großbritannien haben wir einen Führungsanspruch, und das Werk muss rasiermesserscharf sein, sonst schneidet es verflixt noch mal nicht.«
    Andy griff nach seinem Bier. Er schien weggehen zu wollen, doch dann blieb er stehen und blickte auf Levs Hand, die krampfhaft den Zehnpfundschein umschloss. »Holen Sie was für Sophie?«, fragte er.
    »Ja«, sagte Lev.
    »Wir alle lieben Sophie«, sagte er. Lev wartete auf das, was folgen würde − irgendeine Anweisung oder Warnung −, doch es kam nichts. Andy sah ihm nur noch einen Moment länger in die Augen und ging dann. Lev blickte in die Richtung, wo Sophie stand und sich wieder mit Sam unterhielt, und er dachte, dass Sams Miniaturhüte lächerlich waren und dass eine Frau damit niemals schön aussehen würde, keine Frau der Welt.
    Lev bezahlte den Wodka und steckte das Wechselgeld in seine Jackentasche, aber er rührte sich nicht vom Tresen weg. Er fischte das Eis aus seinem Glas und trank den Wodka pur, während er leicht vornübergebeugt an der Theke lehnte. Er wusste, dass seine Einsamkeit in den letzten Wochen, vor allem dank Christy Slane, weniger schlimm gewesen war, doch jetzt spürte er, wie sie in veränderter Form wiederkehrte, als ein Gefühl der Unzulänglichkeit und des Zorns. Er sehnte sich nach einer Zigarette. Wogen lärmenden Gelächters bedrängten ihn von hinten und drohten ihn vollkommen fertig zu machen. Durch ein Loch in seinem Schuh konnte er den harten Boden der Kneipe fühlen. Er hatte Lust, zu spucken und zuzusehen, wie ein Klumpen seines eigenen Speichels auf dem polierten Tresen landete. Gerade als er sich diesen Klumpen vorstellte, diese persönliche Markierung, hörte er seinen Namen. Ohne sich umzudrehen, sah er, wie Sophie sich neben ihn stellte. Sie griff nach ihrem Wodkaglas und füllte es mit Tonic auf, nahm einen Schluck und stellte das Glas ab.
    Er wollte sie nicht anschauen. Er wollte sich weiter in seiner Wut verschließen. Dann spürte er ihre weiche Hand in seinem Nacken, und die Hand zog seinen Kopf an ihr Gesicht, und er sah ihren geöffneten, wartenden Mund und ließ sich dort hinsteuern.Der Kuss, den Sophie ihm gab, war eine heftige sexuelle Angelegenheit, und Lev fühlte, wie ihre Zähne gegen seine schlugen, wie sie versuchte, ihn an sich zu ketten, Knochen an Knochen.
    In seiner Wut und Einsamkeit hätte er sie an sich drücken, hätte zulassen können, dass sein Arm sich um ihre Taille legte, seine Brust ihre Brüste fühlte. Aber das tat er nicht. Er widerstand. Er machte sich von Sophie los und verließ das Pub.
    Jetzt war er allein in seinem Zimmer in der Belisha Road, draußen im zertretenen Garten jaulte der Hund.
    Lev saß auf seinem Bett, rauchte und starrte auf den

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