Der weite Weg nach Hause
Plastikkaufladen und sein Willkommensschild: Hallo! Mein Laden ist geöffnet. Dann ließ er sich auf die Knie nieder und öffnete die Ladentür. Innen gab es einen Plastikladenbesitzer, eine Figur mit einem schwarzen Schnurrbart, bekleidet mit einem großen Overall aus Sackleinen, der ihm um die Taille gebunden war. Sein Gesicht lächelte fröhlich, und in einer Geste der Unschuld breitete er die Arme aus, mit den Handflächen nach oben.
Lev untersuchte die Miniaturwaren auf der Theke: Suppendosen, Mehl- und Zuckersäcke, Streichholzschachteln, schwarze Schuhcreme, und er sah, dass es ein Laden aus einer vergangenen Zeit war, wie die Läden, die es früher einmal, noch vor dem Krieg, in Baryn gegeben hatte, als Stefan und Ina Kinder waren und Holzschuhe trugen. Lev nahm den Ladenbesitzer einen Moment lang zärtlich in die Hand, stellte ihn dann wieder hinter seinen Theke, wo er sofort umfiel. Er ließ ihn dort liegen und schloss die Ladentür.
Lev legte sich auf sein schmales Bett. Er sehnte sich nach Schlaf. Er wünschte, seine Mutter wäre da und brächte ihm einen ihrer selbstgebrauten Schlaftrünke und lächelte ihr schiefes Lächeln. Er dachte an die Weihnachtssterne und jenen seltenen Ausdruck der Freude in Inas Gesicht, als sie am Morgen ihres 65. Geburtstags die Blumen entdeckte. Dann dachte er daran,wie er als kleiner Junge in Auror an Inas Hand zur Schule gegangen war und auf dem ganzen Weg den Kopf in den Nacken gelegt und gestaunt hatte, wie schnell die Wolken am blauen Himmel zogen. »Lev!«, schimpfte Ina jedes Mal. »Pass um Gottes willen auf, wo du langgehst.«
Er stand auf und begann einen Brief an sie zu schreiben. Der Hund im Garten jaulte weiter, während die Nacht kälter wurde.
Liebe Mama,
zusammen mit diesem Brief schicke ich Dir weitere £ 20. Ich vermisse Dich und Maya sehr. Heute Abend wäre ich gern mit Euch zu Hause in Auror, wo das Leben einfach ist. Hier ist es so schwer, im Gleichgewicht zu bleiben. Ich weiß nie genau, was die anderen über mich denken oder was ich eigentlich über sie denke.
Hoffentlich sind die Ziegen sicher und keine ist gestohlen worden. Bitte sorge mit diesen £ 20 dafür, dass ihr alles habt, was ihr für den Winter braucht. Bitte schick mir ein Bild von Maya in dem Mantel, den ich ihr geschenkt habe. Sag Rudi, er möchte sie mit seiner Kodak fotografieren. Ich arbeite immer noch in der Restaurantküche. Inzwischen frage ich die Köche, wie sie bestimmte Gerichte zusammenstellen, und wenn ich kann, sehe ich GK Ashe zu. Ich werde versuchen, einige dieser Ashe-Rezepte nachzukochen und ein guter Koch zu werden! Ich denke, irgendwie könnte das für mein Leben nützlich sein.
Eines der schönen Dinge, die ich Dir über die GK-Ashe-Küche erzählen kann, ist, dass es keinen Abfall gibt. All die Hühnergerippe und Fleischknochen und die Strünke und Reste von Gemüse und Zwiebeln werden ausgekocht für Brühe (die die Köche ›Bouillon‹ nennen), und das bewundere ich. Außerdem schmeckt die Bouillon sehr gut. Abfall hinterlassen nur die Gäste auf den Tellern. Zu meinen Aufgaben gehört es, all das nichtgegessene Essen abzukratzen und in die Mülleimer zu werfen, und jede Nacht ist mindestens ein Mülleimer fast bis oben hin voll, und dann trage ich die Plastiksäcke raus und stelle sie auf die Straße, und manchmal quält mich das. Manchmal ist es schwierig für mich, die Säcke dort stehen zu lassen.
9
Wieso sollte ein Mann sich
nicht für das Glück entscheiden?
Der englische Winter begann beißend zu werden. Die Ebereschen der Belisha Road, die in ihrer schönsten Blüte von der städtischen Kettensäge beschnitten worden waren, wirkten schwarz und tot. Frost ließ morgens alles verstummen. Weihnachtsbeleuchtung flackerte und schaukelte im aufkommenden Wind der dunklen Nachmittage. Wenn Lev auf seinen Nachtbus wartete, saß er, die Hände tief in den Taschen und die Kapuze weit in die Stirn gezogen, in seinen Anorak verkrochen da und merkte, wie die Menschen ihn in dieser Haltung mit Entsetzen beobachteten.
Bei der Arbeit sprach Sophie jetzt nur noch selten mit ihm. Ihr Platz war direkt hinter Levs Spülbecken, und hin und wieder drehte er sich um und schaute sie an, aber sie hielt den Kopf stets gesenkt. Helles Licht fiel auf den gesenkten Kopf, auf die weiche Kappe und die roten Locken, die darunter hervorquollen.
Und Lev wusste, dass dieser Anblick ihn nicht gleichgültig ließ. Er beobachtete Sophies Hände, die schälten, pellten, entkernten,
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