Der weite Weg nach Hause
würde mir aber gar nicht gefallen. Das könnte einen in heikle Situationen bringen.«
Lev lächelte. »Ja. Aber ich glaube, sie wurden nur Frauen im Kopf meines Vaters.«
»Ich verstehe. Im Kopf Ihres Vaters ...«
»Ich habe nie einen Waldgeist gesehen. Ich habe immer geguckt und gesucht. Wie ein vierblättriges Kleeblatt. Aber ich habe nie gefunden.«
Lev blickte hoch und stellte fest, dass die zwei Frauen ihn wohlwollend anlächelten.
Ruby griff nach Sophies Hand. »Liebes«, sagte sie, »wie nett, dass Sie Lev mitgebracht haben.« Dann wandte sie sich wieder an Lev. »Sophie hat mal einen anderen Mann mitgebracht, einen Sportler. Der bot mir an, einen Rückwärtssalto oder so ähnlich zu machen, aber ich musste sagen: ›Nein, ich glaube wirklich nicht, dass wir hier drinnen genügend Platz dafür haben.‹«
Lev und Sophie halfen in der Küche, putzten Rosenkohl, schnitten Pastinaken klein und brieten sie an, umwickelten Würstchen mit Speck, während der Truthahn schmorte. Sophie machteeine mit Nelken verfeinerte Brotsoße. Lev erfand eine Bouillon aus Zwiebeln, Kartoffeln und Rosenkohlstrünken. Dann stellte er das Glas mit gekörnter Brühe zurück in den Schrank und machte eine dunkle, wohlriechende Jus − so wie er sie GK Ashe hatte zubereiten sehen, benutzte dazu die Bouillon, einen Spritzer Wein und den karamellisierten Bratensatz in der Pfanne. Die zwei südafrikanischen Mädchen, die am Weihnachtsfeiertag aushalfen, bestaunten die Jus mit offenem Mund. »Mann«, sagten sie. »Das riecht ja toll. Ihr zwei habt uns gerettet. Wir sind nämlich bloß die Notbesetzung.«
Als alles fertig war, machte Lev sich auf in den Speisesaal, wo die Heimbewohner inzwischen unter der Aufsicht von Mrs. McNaughton, der Direktorin von Ferndale Heights, versammelt waren.
Von den 17 Personen saßen fünf im Rollstuhl. Viele kämpften mit parkinsonschem Zucken und Zittern. Neben jedem Gedeck lag ein einzelnes Knallbonbon. Die elegante Frau, die Minty genannt wurde, nahm ihren Weihnachtsknaller, schwenkte ihn in ihrer dünnen, beringten, klauenartigen Hand und verkündete mit einer Stimme, nicht unähnlich der der Königin: »Ich möchte nur sagen ... bitte alle herhören ... ich möchte euch nur daran erinnern, dass das Knalleraufreißen im letzten Jahr völlig unkoordiniert vonstatten ging. Wir müssen die Knaller nach dem Truthahn aufreißen. Dann fallen die Geschenke nicht ins Essen. Verstanden? Haben es alle gehört?«
»Minty«, sagte ein sehr alter Mann in einem neuen Fair-Isle-Pullover über einem fadenscheinigen karierten Hemd, »wenn wir die Knaller nach dem Essen aufreißen, müssten wir in einigen Fällen warten, bis es Nacht wird.«
»Ich meine doch, bis das Gros von uns aufgegessen haben«, sagte Minty.
»Du meinst, bis das Gros von uns aufgegessen hat . ›Gros‹ ist ein Singularsubstantiv.«
»Halt den Mund, Berkeley«, sagte Minty. »Du bist ein verdammtes Singularsubstantiv und ein nerviges dazu.«
An einigen Stellen des Tischs wurde gelacht. Lev hörte ein Hörgerät fiepen. »Pscht«, sagte Mrs. McNaughton betont sanft.
»Ich mach meinen verflixten Knaller jetzt auf«, verkündete eine Frau im Rollstuhl. »Ich lasse mir von Mrs. Vornehm keine Vorschriften machen. Wir sind hier alle gleich.« Sie hielt ein Ende ihrem Nachbar hin, einem Mann, dessen Gesichtszüge mit ihrem melancholischen Abwärtsdrall Lev an seinen Vater erinnerten.
»Du spinnst wohl, Joan«, zischte er.
»Okay«, sagte sie, »dann reiß’ ich ihn eben verflixt noch mal selbst auf.«
»Joan!«, schrie Minty. »Na-na!«
»Es ist doch deine Schuld, du hast doch von den verdammten Knallern angefangen, Minty«, sagte Berkeley.
»Ich wünsche mir nur ein bisschen Ordnung am Weihnachtstag«, sagte Minty nörgelnd. »Das ist doch sonst die reinste Anarchie hier.«
Die Frau, die Joan hieß, nahm ihr Knallbonbon in beide Hände und begann zu ziehen. Der Knaller knautschte und dehnte sich, zerknallte aber nicht.
Sophie ging zu Joans Platz. »Joan«, sagte sie sanft, »wir servieren das Essen in wenigen Minuten. Soll ich den Knaller jetzt aufreißen, oder wollen Sie noch warten?«
»Ich möchte ihn einfach aufreißen, wann ich will, nicht dann, wenn jemand anders es mir erlaubt.«
»Es gibt immer Ärger bei den Mahlzeiten«, sagte der Rollstuhlmann, Douglas.
»Sie macht keinen Ärger«, sagte Sophie.
»Nur weil Miss Araminta einmal mit Leslie Caron zusammengearbeitet hat ...«
»Ich mochte Leslie Caron«, bemerkte eine
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