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Der weite Weg nach Hause

Der weite Weg nach Hause

Titel: Der weite Weg nach Hause Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rose Tremain
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verschicken Sachen mit falschen Adressen. Oder die Angestellten bringen alles durcheinander. Wahrscheinlich waren die hier für Minty Hollander bestimmt. Wie das meiste.«
    Gehorsam nahm Lev eine gezuckerte Pflaume. Eigentlich hatte er keine Lust, sie zu essen, doch da er nicht wusste, wohin sonst damit, biss er hinein.
    Ruby wandte sich an Sophie und fragte: » Wie haben Sie ihn genannt?«
    »Lev«, sagte Sophie.
    »Lev? Ist das ausländisch oder eine Abkürzung von irgendwas?«
    »Lev ist auf der Suche nach Arbeit nach England gekommen, wir arbeiten zusammen in dem Restaurant, von dem ich Ihnen erzählt habe. GK Ashe. Erinnern Sie sich?«
    »GK Ashe ist der merkwürdigste Name für ein Restaurant, den ich jemals gehört habe! Wieso haben sie ihm nicht einen vernünftigen Namen gegeben, so was wie Wheeler’s?«
    Sophie kicherte. »Die Dinge haben sich weiterentwickelt, Ruby«, sagte sie. »Restaurants haben jetzt andere Namen und anderes Essen.«
    »Was denn für welches?«
    »Modernes Essen.«
    »Ich mochte Wheeler’s immer sehr. Austern. Rotzunge. Das fanden wir immer ziemlich modern. Mögen Sie die Pflaume, Lev?«
    »Die Pflaume ist gut«, sagte Lev. »Vielen Dank.«
    Ruby Constad sah Lev prüfend ins Gesicht. Ihm wurde heiß in dem vollgestellten Raum, und er nahm seinen Schal ab. Er merkte, wie Rubys aufmerksame Augen zu ihm hochblickten.
    »Was für ein prachtvolles Mannsbild«, flüsterte sie Sophie zu.
    Sophie kicherte wieder. Sie legte eine Hand auf Levs Arm. »Ruby findet dich hübsch«, sagte sie, »und das tue ich auch.«
    »Ja?«, sagte Lev.
    Beide Frauen lachten. Ihr Lachen füllte den Raum. Lev freute sich über das kindliche Vergnügen, das darin lag. Ruby stellte die Schachtel mit den Pflaumen weg und begann, unter den Kissen in ihrem Bett zu wühlen. Sie zog einen Umschlag hervor und reichte ihn Sophie.
    »So«, sagte sie. »Das ist für Sie. Dafür, dass Sie so lieb zu einerdicken, alten Frau sind. Dafür, dass Sie all unsere Sonntage verschönern.«
    Lev bemerkte, dass Rubys Augen plötzlich in Tränen schwammen. Doch sie zog ein Taschentuch aus ihrem Jackenärmel und wischte sie weg.
    Sophie blickte auf den Umschlag. »Ruby ...«, begann sie.
    »Jetzt reden Sie kein dummes Zeug. Kaufen Sie sich einen neuen Mantel. Dieses Schafwollgelumpe sieht aus, als hätte es seine besten Tage längst hinter sich. Los, öffnen Sie die Karte.«
    Ruby drehte sich zu Lev um, während Sophie den Umschlag öffnete. Er sah, dass ein Scheck aus der Weihnachtskarte fiel und Sophie sich bückte, um ihn aufzuheben.
    »Wir hier drinnen«, sagte Ruby zu Lev, »haben doch alle unsere besten Tage längst hinter uns. Berkeley Brotherton ist 93.«
    Sophie starrte den Scheck an. Sie ging zu Ruby hinüber und legte ihre Arme um die massige Gestalt. »Das ist viel zu viel«, sagte sie.
    Ruby küsste Sophie auf ihr rotes Haar. Sie sagte zu Lev: »Sophie ist ein ganz liebes Mädchen.«
    »Ich stimme zu«, sagte Lev.
    »Sie ist viel netter als meine Tochter. Alexandra singt mir nie vor. Hilft mir nie beim Kreuzworträtsel. Bringt mich nie zum Lachen.«
    Ruby bat sie, in dem vollgestopften Zimmer Platz zu nehmen. Sie selbst verfrachtete sich auf den Nachtstuhl. Lev ließ sich auf einem niedrigen Hocker nieder. »Das ist ein Hocker aus Kaschmir«, sagte Ruby. »Den habe ich aus Indien mitgebracht. Das meiste Silber ist ebenfalls aus Indien.«
    »Ja?«
    »Ich denke, Sophie hat Ihnen erzählt, dass ich meine Jugend in Indien verbrachte − vor der Unabhängigkeit, als wir noch den Vizekönig hatten und all das. In meiner Schule war ich bei dem Laienfestspiel zum Empfang des Vizekönigs dabei. Wir haben ein Tableau gemacht. Aus lauter Mädchen haben wir auf derBühne das Wort WILLKOMMEN gebildet. Ich war eine Hälfte vom O. Ich habe nie vergessen, dass ich eine Hälfte vom O war. Manchmal denke ich: Das ist alles, wozu du es im Leben gebracht hast, Ruby Constad, du warst immer die Hälfte von etwas. Wirklich albern, was so hängen bleibt, nicht wahr, Lev? Erzählen Sie mir, an was Sie sich erinnern.«
    »Also, ich kann erinnern ... mein Vater erzählte immer, es gibt Waldgeister im Wald hinter unserem Haus ... und ...«
    »Waldgeister? Du lieber Himmel! Ich glaube nicht, dass wir die in England haben. Wie sahen die denn aus?«
    »Ich weiß nicht. Die Geister von toten Menschen, die gelitten haben. Mein Vater sagte immer: ›Sie können Vögel werden, Frauen werden.‹«
    »Ach du lieber Gott. Ein Geist, der plötzlich eine Frau wird,

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