Der weite Weg nach Hause
− für uns alle. Du musst mir ein bisschen dabei helfen.«
Es herrschte Stille. Dann konnte Lev seine Mutter weinen hören. Er fluchte stumm. Fast wünschte er, er hätte nicht angerufen. Er deckte das Handy ab und sagte zu Sophie: »Sie weint.«
Dann sagte Ina unter Tränen: »Das war keine gute Idee. England. Im Baryner Anzeiger habe ich einen Artikel über die Kriminalität bei euch gelesen. Das wird allmählich ein schreckliches Land. Gewalt. Alkohol. Drogen. Alle sind zu fett. Hier ist es dir besser gegangen.«
»Es ist mir nicht besser gegangen«, sagte Lev, so sanft er konnte. »Ich hatte keine Arbeit . Hast du das vergessen? Bitte hör auf zu weinen, Mama. Bitte ...«
Sophie stand auf und begann, im Zimmer umherzuwandern. Lev beobachtete sie. Er fand es sexy, wie anmutig sie sich bewegte. Unterdessen durchforstete er sein Hirn nach etwas, was er sagen könnte, um Ina zu trösten, aber er fühlte nur, wie viel ihn von ihr trennte, fühlte den großen europäischen Kontinent, der zwischen ihnen lag.
»Hör zu«, sagte er seufzend, »ich muss jetzt Schluss machen, weil Anrufe von diesem Handy sehr teuer sind. Aber versuch, die Dinge anders zu sehen. Ich schicke Geld ...«
»Du hättest es wie Rudi machen sollen: dir ein Auskommen in Auror suchen.«
»Was für ein Auskommen?«
»Als Taxifahrer. Automechaniker. Ich weiß es nicht.«
»Du weißt es nicht, weil es nichts gab . Keine Arbeit. Also hör auf damit. So und jetzt sage ich auf Wiedersehen, Mama. In Ordnung? Ich muss jetzt gehen.«
»Ja. Geh du nur.«
»Nächste Woche schicke ich wieder zwanzig Pfund. Hast du gehört? Ich schicke nächste Woche zwanzig Pfund.«
»Ja, ich habe es gehört. Auf Wiedersehen, Lev. Heute habe ich die heilige Mutter gebeten, dass sie Gott bittet, er möge dich nach Hause bringen.«
Ina legt auf.
Das Handy im Schoß, saß Lev regungslos da. Er hatte das Gefühl, ein Stein habe sich in seiner Brust festgesetzt. Er legte den Kopf in die Hände.
»Erzähl ...«, sagte Sophie.
»Meine Mutter. Sie versteht nicht, dass ich mich für sie und Maya so anstrenge. Alles, was sie sagt zu mir: ›Lev, komm nach Hause, komm nach Hause.‹ Aber nach Hause, warum? Nichts dort, Sophie. Keine Arbeit. Kein Leben. Nur Familie.«
Sophie reichte Lev ihre halb gerauchte Zigarette, und er nahm einen tiefen Zug. »Heute in Ferndale«, sagte er, »mit dir und Ruby und allen war ich glücklich. Verstehst du? So glücklich. Als ich das schöne Essen serviere, sehr glücklich. Als du singst, so glücklich. Das war mein bestes Weihnachten. Und jetzt ...«
»Ich weiß«, sagte Sophie. »Familien bringen einen um. Deshalb sehe ich meine auch so selten. Aber, he, hör zu, der Tag ist noch nicht zu Ende. Komm, wir gehen aus. Essen was Leckeres. Trinken was. Wie wäre das? Es ist ja nicht so, dass wir das nicht verdient hätten.«
Lev streckte die Hände aus. Er zog Sophie an sich, legte die Arme um sie und saß sehr still, den Kopf in ihren roten Locken vergraben. Er liebte ihren Geruch. Wusste, dass allein der Duftihn wild machen konnte. Fragte sich, was für Verrücktheiten er sich mit der Zeit noch gestatten würde.
11
Rückwärts fließen
Am Morgen bevor das Restaurant wieder öffnete, sagte Sophie: »Lev, du musst heute mal nach Hause gehen, ich habe ein paar Sachen zu erledigen.«
Sachen? Was für Sachen? Aber er erhob keinen Einspruch, obwohl ihn ein Tag ohne sie lang und einsam angähnte. Er redete sich ein, er werde sich schon zu beschäftigen wissen: sein Zimmer putzen, Ina Geld senden. Und er dachte an Christy, allein in seiner Wohnung. Vielleicht würde er mit Christy einen Spaziergang nach Hampstead Heath machen und den Drachenlenkern zusehen und den kühnen Badenden, die das Eis der gefrorenen Teiche aufhackten.
Bevor er ging, bot Sophie an, ihm das Haar zu schneiden. Sie wusch es und rubbelte es kräftig mit einem Handtuch trocken. Dann ließ sie ihn an ihrem hölzernen Frisiertisch Platz nehmen, und mit dem Handtuch über den Schultern konnte er sich, hell angestrahlt, in einem alten dreiteiligen Spiegel sehen, und er starrte auf seine zwei Profile und auf Sophies weiche Hände, die seinen feuchten Kopf liebkosten.
Um den Spiegel waren allerlei Kosmetikartikel aufgebaut, und an einem Schmuckständer in Form eines Baums hingen Ketten und Perlenschnüre. In welche Richtung Lev auch schaute, immer sah er sein eigenes Abbild, umrahmt von diesen Gegenständen. Gehorsam hielt er still und starrte die Cremes und Lotionen an. Und
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