Der Weltensammler: Roman (German Edition)
sie. Braut aller Nächte des Lebens, Jungfrau unter allen Jungfrauen der Zeit. Der Strudel der Pilger fließt gegen den Uhrzeigersinn. Sheikh Abdullah ist erregt. Als würden die Lebensträume, die sich in seiner Nähe verwirklichen, auch ihn aufladen. Er überläßt sich dem Strudel, um den starren Kubus siebenmal zu umkreisen. Seiner Pflicht gemäß. Im Laufschritt zuerst, wie der Führer ihn ermahnt, eher weiter außen als innen, wo das Drängeln gerinnt. Eigentlich dürfte er derweil die Kaaba – unfaßbarer Mittelpunkt – nicht anblicken. Aber er kann seinen Blick nicht von ihr abwenden. Später, als er ihr so nahe ist, daß er wie die anderen Pilger mit ausgestrecktem Arm den Schleier berühren kann, löst er sich auf im Gewühl, ein peinigendes Gefühl, bis er aufhört, sich dagegen zu wehren. Die Strömung bestimmt alles, die Richtung, die Geschwindigkeit, die Pausen, in denen angehalten wird, um die Segnung, die von dem schwarzen Stein ausgeht, zu empfangen, und ein Im Namen Gottes, Gott ist groß auszurufen. Nach der letzten Runde drängt er sich zum Stein vor – Mohammed hilft ihm, seinen Weg zu bahnen –, er beugt sich so weit er kann zum glänzenden Stein vor, berührt ihn, überrascht davon, wie klein er ist, der einst weiß wie Kalk gewesen sein soll, bevor die vielen sündigen Lippen und Hände, die ihn küssen und streicheln, schwarz und schwärzer werden ließen. Die Legende bietet eine Erklärung, die seiner Gemütsverfassung entspricht; am Abend wird er sie aufschreiben und seine Vermutung notieren, daß es sich bei dem Stein um einen Meteoriten handelt.
Als einer von vielen, deren Gedanken und Gebete sich um die Kaaba drehen, ist er Teil eines Kreises, der sich zu weiteren Kreisen ausdehnt, die sich über Mekka ziehen, über die Wüste und ihre Stationen,die bis nach Medina reichen, nach Kairo, und darüber hinaus, nach Karachi und Bombay und weiter noch. Ein Stein ist in den Ozean der Menschheit gefallen, und die Wellen schlagen bis in die fernste Einöde. Er hat seine sieben Umrundungen vollbracht. Das Gebet beim Fußabdruck Abrahams. Er trinkt Wasser vom Zamzam-Brunnen. Pilger, Pilger aus Indien, beglückwünschen sich. Sie schließen ihn ein in ihre Umarmungen. Er gibt sich wortkarg. Mohammed beobachtet ihn. Gewiß ist es schön, sich alle Menschen als Brüder und Schwestern vorzustellen. Aber ein Verdacht beginnt um die Kaaba zu kreisen, er verdichtet sich mit jeder Rotation. Wenn jeder Mensch einem nahestünde, um wen würde man sich kümmern, mit wem leiden? Das Herz des Menschen ist ein Gefäß von begrenztem Fassungsvermögen, das Göttliche hingegen ein Prinzip ohne Maß. Das geht nicht gut zusammen. Die Ordnung, die von der Kaaba verheißen, erscheint ihm auf einmal suspekt. Er dreht allen Nächsten den Rücken zu und trinkt ein zweites Glas Zamzam. Wieso muß es ein Zentrum geben? Wegen der Sonne? Wegen des Königs? Wegen des Herzens? Zeige mir die Richtung, in der Gott nicht weilt, hatte der Guru gesagt, als ihm vorgeworfen wurde, seine Füße würden respektlos gegen Mekka zeigen. Ganz im Sinne des Erfinders, oder noch genauer ausgedrückt: ganz im Sinne des Unerfundenen, des Ungeschaffenen. Die oberflächliche Form ist nötig für jene, denen es an Phantasie mangelt. Die sich das Allgegenwärtige nur in Stein gefaßt, in Stoff gestickt, auf Leinwand geworfen vorstellen können. Das Wasser schmeckt brackig, schwefelig. Aber es versiegt nicht. Das Wasser hat diesem Ort das Leben geschenkt und ist dafür folgerichtig in dessen Mythologie aufgenommen worden. Erneut wird er es nicht trinken, wenn er es vermeiden kann, nicht wie der Mann auf dem Pflaster vor der Moschee, auf den Mohammed ihn hinweist, ein Kranker, der sich geschworen hat, soviel Zamzam-Wasser zu trinken, wie es bedarf, um wieder zu Kräften zu kommen. Und wenn er nicht wieder gesundet? fragt er Mohammed. Dann liegt es gewiß daran, daß er nicht imstande war, genug Wasser zu trinken, lautet die Antwort, und wie so oft ist er sich nicht sicher, ob dieser junge Kerl die Dummheit seiner Altvorderen nachplappert oder sich über sie mokiert. Es gibt viele Hadjis, fügt Mohammed hinzu, diesich das Zamzam-Wasser in Eimern in ihr Quartier tragen lassen und dort über ihren Körper gießen, weil es ihr Herz ebenso wie ihren Körper reinigt. Von außen nach innen. Wir in Mekka machen es umgekehrt.
Die Skepsis von Sheikh Abdullah wächst mit jedem Schritt, mit dem er sich von der Kaaba entfernt.
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