Der Weltensammler: Roman (German Edition)
sehr an das Leben dort gewöhnt, sie haben Angst vor der Welt außerhalb des Tempels. Wenn die Pujari gnädig sind, dürfen die älteren Devadasi im Tempel bleiben, um den Boden zu fegen und Wasser zu holen. Kundalini war jung gewesen. Wenn es ihr gelang, sowohl einen Offizier der Angrezi als auch seinen Diener zu verführen, waren ihre Reize gewiß beachtlich gewesen. Wieso war sie weggelaufen? Der Lahiya hatte einen seiner Freunde besucht, seinen einzigen Freund eigentlich, der einzige, dessen Gesellschaft ihn nicht irritierte. Ein Mann der Dichtung und der Musik, der vieles von der Welt wußte, was dem Lahiya verschlossen geblieben war, weil er ein Leben lang die Welt nur durch die Augen seiner Kunden entdeckt hatte. Eigentlich hatte er den Auftrag von Naukaram nur nebenbei erwähnen wollen, aber sein Freund hatte seine Arme vor seinem Bauch verschränkt, der so gewaltig war wie der Kupferkessel, den er mit Ringen an allen Fingern schlug, wenn er seine Lieder sang, und bat ihn um die ganze Geschichte. Sein Freund zeigte großes Interesse an Kundalini, ungebührendes Interessefast. Und er konnte manche Frage des Lahiya beantworten. Allerdings störte es ihn, daß er seinen Erklärungen immer wieder den Satz voranstellte, es sei doch allgemein bekannt, daß die Frauen im Maikhanna ihren Körper verkauften, weswegen sie auch ›die Geliebten‹ hießen, nicht wegen ihres Liebreizes, hast du das etwa vermutet? Und es sei doch allgemein bekannt, daß jene unter ihnen, die tanzen können, und jene, die Bhajan singen können, früher Devadasi waren. Wieder dieser Begriff. Devadasi. Es konnte keinen Zweifel mehr geben. Eine Konkubine, die Gott und Priester sich teilen. So hatte der Freund es nicht formuliert. Er hatte ihm erklärt, die Devadasi dürften keinen Sterblichen heiraten, weil sie mit dem Gott des Tempels vermählt seien, dem sie dienten, den sie ankleideten und auszogen, den sie schaukelten und fütterten und anbeteten, für den sie alles taten, was eine gute Ehefrau tun würde. Nur eines, das mußte der steinernen, der bronzenen Gottheit versagt bleiben, weswegen die Priester den Liebesakt mit den Devadasi vollziehen mußten. Aber all das sei doch allgemein bekannt. Es dampfte um den Lahiya herum, als wäre Regen auf die ausgetrocknete Tonerde gefallen, als atme die Erde wieder. Er verabschiedete sich schnell von seinem Freund. Der Gang nach Hause war wie ein Spaziergang nach dem ersten Regenfall. In seinem Zimmer zündete er ein Räucherstäbchen aus Sandelholz an, er beschwor seine Frau, ihn ja nicht zu stören, er nahm ein neues Blatt heraus und schrieb auf, was er nun wußte über die Devadasi namens Kundalini, die aus dem Tempel entflohen war, vor dem Pujari, ein häßlicher Mann mit Mundgeruch, der ihr an Bildung nicht das Wasser reichen konnte. Sie war mit den wichtigen heiligen Texten vertraut, er hingegen erfand die Sutras, die ihm nicht geläufig waren, er hängte heilige Endungen an unsinnige Silben, und weil sie es merkte, bestrafte er sie, indem er ihr weh tat, wenn er sich ihrer bemächtigte. (War das übertrieben? Von wegen. Diese dreckigen, halbgebildeten Brahmanen, eine Schande für die Kaste, das war genau ihre Abart.) Sie konnte Bhakti-Lieder singen, eine Vielzahl, sie trug sie so vor, daß ein Asket von ihrer Liebe zu Gott überwältigt wurde und ein Lebemann von dem Versprechen körperlicher Erfüllung erregt wurde. Nein, letzteres strich der Lahiya wieder durch. Es war zutreffend, aber ungebührend.Er durfte sich nicht mitreißen lassen von dieser Frau, in deren Gesängen Dharma und Kama miteinander verschmolzen. Sie war also vor dem Pujari, der sie einmal zu häufig mißbraucht hatte, nach Baroda geflohen. (Wieso gerade nach Baroda? Egal, es mußte nicht jedes Rätsel gelöst werden.) Vielleicht kannte sie hier eine andere Devadasi. Sie begann in der Maikhanna zu arbeiten, wo sie Naukaram traf, ein Kunde, dem sie sich hingab gegen Bezahlung, und er stellte sie seinem Herrn vor. Die Einsicht schlug über ihn ein, natürlich, wie hatte er es übersehen können, Naukaram hatte nicht das Glück seines Herrn im Auge, er hatte an sich selbst gedacht, nur an sich selbst. Er wollte Kundalini nicht in der Maikhanna aufsuchen müssen, er wollte sie in seiner Nähe haben. Dafür mußte er ein Opfer bringen, er mußte sie mit seinem Herrn teilen. Und wieso nicht? Wenn Gott und sein Priester sich eine Geliebte teilen können, wieso dann nicht ein Offizier der Ostindischen Gesellschaft und sein
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