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Der Wert des Blutes: Kriminalroman (German Edition)

Der Wert des Blutes: Kriminalroman (German Edition)

Titel: Der Wert des Blutes: Kriminalroman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen Leather
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wenn ich mich nicht noch einmal rasierte.
    Ich nahm noch einen Mund voll Wasser und gurgelte. Was ich ausspuckte, war rot. Blutrot. Ich drehte die Hähne auf und es verschwand wirbelnd im Abfluss; als ich zum zweiten Mal ausspuckte, war es nur klares Wasser und Schleim. Prüfend betrachtete ich meinen Mund im Spiegel und entdeckte weder Schnitte noch Abschürfungen. Nur Zähne und Füllungen. Noch ein Anzeichen für körperlichen Verfall. Ich nahm den Mund noch einmal voll und spie es wieder aus, aber es kam kein Blut mehr.
    Ich nahm mir ein Glas Wasser mit ins Schlafzimmer, legte mich auf die Seite, mit dem Rücken zum Fenster, und versuchte, wieder einzuschlafen. Bilder von dem Mädchen und der Gasse gingen mir immer wieder durch den Kopf, ihr Lächeln, ihr Blick, das Blut. Ich hörte meinen eigenen Herzschlag im rechten Ohr, das auf das Kissen gedrückt war.
Pochpoch, pochpoch, poch.
Das Rauschen von Blut in den Adern, den Gefäßen, in denen sich bereits Cholesterin und Fetttropfen und der ganze restliche Schutt ablagerten, die in meinem Gewebe herumschwammen.
Pochpoch, poch. pochpoch.
Die ständige Erinnerung an meine eigene Sterblichkeit, ein faustgroßes Stück Gewebe mitten in meiner Brust, von dem mein ganzes Dasein abhing. Ohne seine rund siebzig Spritzer von sauerstoffangereichertem Blut pro Minute gäbe es keinen Jamie Beaverbrook mehr. Wie es wohl wäre, wenn man einen Herzanfall hatte, die Pumpe stottern, zucken und stehen bleiben spürte, zu wissen, dass das Ende bevorstand, das Hirn keinen Sauerstoff mehr bekam und dass alles bald vorbei wäre? Die leere Schwärze sich für immer und ewig ausdehnte? Kein Jamie Beaverbrook mehr?
    Wie üblich deprimierte mich der Gedankengang. Die morbiden Grübeleien über meine eigene Sterblichkeit überkamen mich meist in der Nacht, wenn ich allein im Dunkeln war. Ich bewegte den Kopf, um das Ohr vom Kissen zu bekommen, damit ich mein anklagendes Herz nicht hören musste, das die Schläge zählte, die für die mir noch verbleibende Zeit standen. Siebzig pro Minute, vierhundertzwanzig in der Stunde, rund hunderttausend am Tag. Wie viele waren das pro Jahr? Über fünfunddreißig Millionen Schläge. Wie viele blieben mir also noch übrig, wenn ich noch fünfzig Jahre zu leben hatte? Ich rechnetenach und kaum auf rund 1,8 Milliarden.
Pochpoch
minus eins.
Pochpoch
minus zwei.
Pochpoch
minus drei. Dies war nicht wie Schäfchen zählen, um sanft einzuschlafen – hier bröckelte mein Leben ab, Stück für Stück, während ich allein im Doppelbett lag, und die Vorstellung erfüllte mich mit Grausen.
    Ich bewegte wieder den Kopf, und dieses Mal spürte ich, wie meine rechte Schulter knackte, als sich der Arm in der Gelenkpfanne bewegte, ein Zeichen für Knorpelverschleiß nach zu viel Tennis und Squash. Früher hörte ich nichts, wenn sich die Knochen aneinander rieben. Oder ich hatte es nie bemerkt. Der Knorpel in meinen Knien knackte auch, wenn ich aufstand, und ab und zu meine Hüften, wenn ich mich schnell umdrehte.
Lieber Gott,
flehte ich,
lass mich nicht alt werden und nicht sterben. Lass mich so bleiben, wie ich jetzt bin. Oder wenn du besonders barmherzig sein willst, lass mich so sein, wie ich vor fünf Jahren war, in meiner Jugend Maienblüte. Als ich jung war.
    Ich holte tief Luft und konnte die Luft in meine Lungen strömen hören; als ich ausatmete, pfiff sie wie der Wind in den Zweigen eines sterbenden Baums. Wie das wohl ist, dachte ich, wenn man aufhört zu atmen? Vermutlich starben Menschen meistens so – die Lungen hören zuerst auf zu arbeiten, dann das Herz, und erst dann würde das Hirn merken, dass es kein frisch mit Sauerstoff angereichertes Blut mehr bekam, wie es sollte, wie es seit den vergangenen Gott weiß wie vielen Millionen Herzschlägen gewesen war. Würde der Körper panisch reagieren oder ruhig gehen und sich friedlich dem unendlichen Vergessen anheimgeben?
    Ich wälzte mich hin und her, konnte aber nicht schlafen – nicht weil ich nicht müde war, sondern weil mir diese dunklen,deprimierenden Gedanken durch den Kopf gingen und alles andere verdrängten. Gedanken an Krankheit, an das Altern, an den Tod. Ich schaltete den Fernseher am Fuß des Betts ein und sah mir einen Krimi an, in dem zwei junge Frauen, Detektivinnen in teuren Cabrios, einen Drogenring in die Enge trieben und dabei zwei Autoverfolgungsjagden und eine Schießerei überstanden, ohne ihr Make-up zu verwischen. Das deprimierte mich noch mehr, darum holte ich mir ein

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