Der Wert des Blutes: Kriminalroman (German Edition)
weißt, was ich meine. Die Zeit spielte damals nicht dieselbe Rolle. Ich lebte einfach, überlebte. Zog von einem Ort zum anderen, von Land zu Land.«
»Aber in Ägypten bist du geboren?«
»Ja.«
»Vor viertausend Jahren?«
»So in etwa. Ich erinnere mich an den Bau der Cheops-Pyramide und den der Sphinx, und ich schätze mal, das war um zweitausendfünfhundert vor Christus. Ich habe auch lange gebraucht, um klar im Kopf zu werden. Du kannst dir sicher vorstellen, wie das war, als alle um mich herum alterten und ich immer gleich blieb, genauso, wie du mich heute siehst. Jahrhundertelang habe ich als Ausgestoßene gelebt, voller Angst, zu lange in der Nähe von Menschen zu bleiben, denn am Ende haben sie sich immer gegen mich gewandt.« Sie sagtedas so, wie ich einmal einem Neffen erzählt habe, dass ich mich an die Zeit vor Flachbildfernsehern und Mobiltelefonen erinnerte. Diese Bemerkung rief bei dem Achtjährigen Erstaunen hervor, aber das war gar nichts im Vergleich zu dem, was ich empfand, als sie mich mit ihrer nüchternen Enthüllung konfrontierte. »Und in Bezug auf das, was ich bin, da weiß ich nicht, wie ich das beschreiben soll.«
»Ein Vampir?«, fragte ich.
Sie warf den Kopf in den Nacken und lachte. Ihr Hals war lang und blass und makellos glatt. Der Hals eines Kindes. »Jamie, sehe ich etwa wie ein Vampir aus?«, fragte sie.
Ich musterte ihr fließendes schwarzes Kleid, die schwarzen Augen, die weißen, vollkommenen Zähne und das glänzende Haar und eine leise innere Stimme sagte: Ja, genauso siehst du aus. Als was sollte man denn jemanden sonst bezeichnen, der so alt wie die Pyramiden war und den man über einer Leiche in einer Gasse gefunden hatte, mit Blut auf den vollen roten Lippen?
»Na?«, hakte sie nach.
»Ich glaube nicht«, sagte ich.
»Ich habe Gedächtnislücken«, sagte sie. »Darum sind meine Altersangaben etwas vage.«
»Erinnerst du dich an deine Eltern?«
»Dunkel. Ich weiß noch, dass sie nach meinem dreiundzwanzigsten Lenz nichts mehr mit mir zu tun haben wollten. Die Menschen damals hatten eine kürzere Lebensspanne und sie alterten schneller. Ich wurde nie krank und alterte äußerlich überhaupt nicht. Sie zwangen mich, sie zu verlassen. Ich weiß nicht mehr, wie sie aussahen, aber ich weiß noch, wie es sichanfühlte, von ihnen abgelehnt zu werden. Das habe ich nie vergessen.«
Verwirrt schüttelte ich den Kopf. »Viertausend Jahre«, sagte ich. »Das scheint unmöglich. Wie ist das passiert? Wie viele von deiner Art gibt es denn noch?«
Sie zuckte mit den Achseln. »Ich weiß nicht, wie das passiert ist. Gene vermutlich. Eine Mutation. Wie viele es von uns gibt? Ich glaube, eine Handvoll. Ich weiß von sechs. Erblich ist das nicht, falls du darauf anspielst. Meine Mutter, mein Vater und meine vier Brüder waren alle normal. Sie starben alle vor ihrem vierzigsten Lebensjahr.«
»Und die anderen – steht ihr miteinander in Verbindung?« Mir war klar, dass meine Fragen nicht in logischer Reihenfolge kamen; ich fragte nach dem Zufallsprinzip. Wenn ich das, was sie war, überhaupt irgendwie begreifen wollte, würde ich die wissenschaftliche Methode wählen müssen. Gott, ich wünschte, ich hätte ein digitales Aufzeichnungsgerät dabei oder wenigstens Notizbuch und Stift.
»Nicht die ganze Zeit. Du musst bedenken, dass es für uns nicht leicht ist, in einer normalen Gesellschaft zu leben, Jamie. Wir müssen immer weiterziehen; wir können nie länger als zehn Jahre an einem Ort bleiben, damit wir nicht entdeckt werden. Und wenn wir erst weggezogen sind, müssen wir mindestens fünfzig Jahre warten, bevor wir zurückkommen. Aber doch, wir treffen uns, wir helfen einander, wo wir können. Müssen wir ja. Wir haben nur uns.«
»Du sagst, ihr müsst weiterziehen. Wo hast du gelebt?«
»Gott, Jamie, frag mich doch lieber, wo ich nicht gelebt habe. Meine frühesten Erinnerungen sind an Ägypten. Als das Reichdann zerfiel, zog ich nach Griechenland und dann nach Rom. Nach der Plünderung – wann war das noch gleich? Vierhundertsechsundzwanzig nach Christus – zog ich nach Byzanz. Ich war in dem Gebiet, das man heute den Mittleren Osten nennt, um achthundert, dann ging ich nach China und weiter nach Kiew, das die Kulturmetropole des Slawenreichs war. Ich zog weiter, als Dschingis Khan auftauchte. Zur Zeit der Renaissance war ich in Florenz, in London, als die Pest in Europa wütete, in Paris während der Revolution, in der Schweiz zur Zeit des Ersten Weltkriegs, und in
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