Der Wettlauf zum Suedpol
direkt an ein imaginäres Publikum, weil er jetzt endgültig wusste, dass er sich nicht mehr selbst würde rechtfertigen können. »Sollten diese Zeilen gefunden werden, so möchte ich, dass folgende Tatsachen festgehalten werden: Oates’ letzte Gedanken galten seiner Mutter, aber unmittelbar vorher sprach er mit Stolz davon, dass sein Regiment sich über den Mut freuen werde, mit dem er dem Tod entgegengehe. Wir können seine Tapferkeit bezeugen. Wochenlang hat er unaussprechliche Schmerzen klaglos ertragen und war tätig und hilfsbereit bis zum letzten Augenblick. Bis zum Schluss hat er die Hoffnung nicht aufgegeben – nicht aufgeben wollen. Er war eine tapfere Seele.« Am nächsten Tag wäre Oates 32 Jahre alt geworden.
Noch einmal zogen die drei Überlebenden weiter. Weiterhin machten sie sich gegenseitig Mut, doch ernsthaft glaubte keiner von ihnen an eine Heimkehr. Aber die Hoffnung starb ja zuletzt; und vielleicht würden sie ja doch noch wie vier Monate zuvor beim Corner Camp im tiefsten Schneesturm das Bellen der Hunde hören und so im allerletzten Moment wie durch ein Wunder gerettet werden. Alle litten jetzt an schweren Erfrierungen, auch Scott an seinen bis dahin gesunden Füßen; nun konnte er sich nur noch unter Schmerzen fortbewegen. Sie warfen den Theodoliten, eine Kamera und Oates’ restliche Sachen weg, führten jedoch »auf ausdrücklichen Wunsch von Wilson«, wie Scott vermerkte, noch immer die Gesteinsproben vom Mount Buckley mit sich. Am 19. März hatten sie sich unter Aufbietung der letzten Kräfte bis auf elf Meilen – 20 Kilometer – an One Ton Depot herangekämpft, doch dann hielt sie wieder ein Schneesturm im Zelt gefangen. Das letzte Öl für den Kocher war aufgebraucht, und sie lebten nur noch von einem Rest Spiritus, den sie in einer Lampe erhitzten – möglicherweise in jener, die Wilson aus »Polheim« mitgenommen hatte.
Abb 181
»Three Men with a Sledge in the Snow« – »Drei Männer mit einem Schlitten im Schnee« – lautet der Titel dieses Bilds von Wilson, in dem er sein Ende vorauszuahnen schien.
Nach zwei Tagen Warten beschlossen Wilson und Bowers, sich das letzte Stück allein bis zum Depot durchzukämpfen und Brennstoff zu holen. »Birdie [Bowers] und ich werden versuchen, das 11 Meilen nördlich von uns liegende Depot zu erreichen und zu diesem Zelt zurückzukehren, wo Kapitän Scott mit einem erfrorenen Fuß liegt«, schrieb Wilson in einem Brief an seine Frau Oriana, doch er konnte sich und ihr nur wenig Hoffnung machen. »Ich werde einfach hinfallen und im Schnee einschlafen… Sei nicht unglücklich – es ist alles zum Besten.« Doch wieder und wieder verschoben sie ihren Aufbruch, weil der Schneesturm ohne Unterlass wütete. Zuletzt planten sie, alle drei in den tobenden Orkan hinauszugehen und sich zum Depot durchzukämpfen – oder gemeinsam auf dem Weg zu sterben.
Keiner weiß, was in den darauf folgenden Tagen passierte. Waren ihre Kräfte so aufgebraucht, dass sie es nicht mehr schafften, das Zelt zu verlassen?
Bat Scott, der jetzt zum »Hemmschuh« geworden war, Wilson und Bowers, denen es immer noch etwas besser ging, sich zu zweit durchzuschlagen und ihn zurückzulassen, was sie natürlich ablehnten? Oder überredete er sie vielmehr, in ihren Schlafsäcken geduldig auf das Ende zu warten, weil er wollte, dass ihre sterblichen Überreste und ihre Aufzeichnungen für die Nachwelt in jeden Fall gefunden würden, was bei einem Tod irgendwo auf freier Strecke womöglich nicht der Fall hätte sein können? Wir wissen nicht, worüber sie sprachen in diesen letzten Tagen. Vielleicht dachten sie daran, dass sie es bereits fast 40 Kilometer über den 80. Breitengrad nach Norden geschafft hatten – den Punkt, an dem das One Ton Depot eigentlich hatte errichtet werden sollen. Doch damals, mehr als ein Jahr zuvor, hatte Scott das Leiden der Ponys nicht mehr mit ansehen können und war vorher umgekehrt. »Ich fürchte, das werden Sie bereuen, Sir«, hatte Oates damals gesagt. »Bereuen oder nicht, mein lieber Oates, ich habe mich entschieden wie ein Christ«, hatte Scott geantwortet.
Als es jetzt zu Ende ging, fanden vor allem Wilson und Bowers Trost im Glauben. Wilson schrieb an seine Frau, er werde mit dem kleinen Gebetbuch in der Hand sterben, das sie ihm mitgegeben hatte. Als das Buch später gefunden wurde, war es voller Unterstreichungen und Randbemerkungen. »Es ist vollbracht«, hatte er an einer Stelle hineingekritzelt, »das lehrt uns, dass alles
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